Theorie zu Ableismus

Diskriminierung ist einer der zentralen politischen Streitpunkte unserer heutigen Welt. Es ist ein Phänomen, welches globale Aufmerksamkeit erzeugt und somit eine Salienz ähnlich dem Klimawandel hat. Es ist eine praktische Kernfrage zur sozialen Gerechtigkeit, und damit zu einem Themengebiet, mit welchem sich schon große Philosophen wie Kant, Rousseau, oder später de Beauvoir und Nussbaum beschäftigten. Auf deren Theorien fußt dieser als Artikel gestalteter Bericht. In einer Zeit, in der zum ersten Mal Autist:innen, allen voran Greta Thunberg, beginnen, offensiv mit Autismus umzugehen und Autismus so in die Öffentlichkeit tragen – kurz: in einer Zeit, in der Autismus allmählich von der breiten Bevölkerung zu sehen begonnen wird, werden die Fragen nach den sozialen Ungerechtigkeiten und der Diskriminierung, der Autist:innen begegnen, immer dringlicher. In diesem Bericht sollen die bisherigen Kernbegriffe dazu quasi rekalibriert, definitorisch angeglichen und strukturiert werden, um dem angesprochenen Wandel gerecht zu werden.
Da sich der Artikel jedoch primär an ein interessiertes Allgemeinpublikum und nicht an die akademische Fachwelt richtet, wird auf einen Forschungsstand und ein Literaturverzeichnis verzichtet. Aus dem gleichen Grund wird dieser Artikel an manchen Stellen allgemeine Formulierungen und Ausdrücke den wissenschaftlichen vorziehen. Jedoch wird der Text eventuell dennoch gegebenenfalls „trocken“ erscheinen. Wer also die genaue Analyse und Logik auslassen möchte, kann einfach zum letzten Kapitel „Synthese und Schlusswort“ springen, und sich dort die Takeaway-Points abholen. Und da es sich nicht nur um ein soziologisches, sondern auch ein moralisches Problem handelt, wird dieser Artikel normative Züge statt ein empirisches Design aufweisen. Ziel ist es, die Frage zu klären, was Ableismus bedeutet und wie Disableismus einzuordnen ist. Dies geschieht, fortführend die bereits erwähnte Veränderung, vor dem Hintergrund mehrerer Bewusstseinswandel, weg von reinen Krankheitsbildern in Sachen Autismus und weg von physischen und intellektuellen Vorstellungen in Sachen Behinderung. Denn mit dem Aufstieg der Neurodiversitätstheorien werden diese Vorstellungen der Realität nicht mehr gerecht. Autist:innen begegnet Diskriminierung, obwohl sich eine nicht unerhebliche Zahl derer nicht als krank betrachtet, sondern „first and foremost“ als anders. Autismus ist keine Geisteskrankheit, wie Depression, keine spezifisch sexuelle Varianz, wie Homosexualität, keine Reduktion, wie pathologische Intelligenzminderung, und keine aus sich selbst heraus Leid erzeugende Störung, wie sie mir viele Menschen mit schizotyper Persönlichkeitsstörung beschrieben. Autismus als Andersartigkeit kann sich nicht in diese Bereiche einordnen lassen, ist jedoch am ehesten mit Transsexualität vergleichbar: In beiden Fällen sieht man die Identität oft nicht am (biologischen) Erscheinungsbild an, beide Phänomene greifen mental sehr tief, bis in die eigene Persönlichkeit, haben mit Wahnehmung (Selbstwahrnehmung/allgemeiner Wahrnehmung) zu tun, sind per se und von vielen Betroffenen wahrgenommen keine Behinderungen oder negativere Existenzformen, doch beide sind mit Behinderung und Diskriminierung konfrontiert. Das passt allerdings nicht mit dem absolut negativem klassischen Behinderungsbegriff zusammen. Dieser Konflikt bedingt, dass eine reine Fragebeantwortung nicht ausreicht, sondern dass Begriffe und Theorien neu aufgebaut werden müssen. Herkömmliche, tradierte und Verbreitete Ideen und Theorien, welche die Neurodiversitätsidee nicht einschließen reichen nicht mehr aus.

Gliederung

Um also die genannte Frage behandeln zu können, werde ich erst einmal mich selbst in dem Kontext der Diskriminierung einordnen, um transparent zu machen, wo ich mich in diesem Raum befinde, wo ich auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen kann, und wo Abstraktion nötig ist. Danach folgen einige Begriffsdefinitionen, damit bekannt ist, was einzelne Wörter bedeuten, denen Schlüsselpositionen in der ableistischen Diskriminierungsthematik zukommt. Die Definitionen werden mit Rückgriff auf den Duden, manchesmal auf Vordenker, und zum Teil auf meinen Gedankengängen basieren. Im Anschluss daran erfolgt eine praktisch-allgemeine Beschreibung von Ableismus und Disableismus, um darzustellen, wie dies real erfahrbar ist. Um auf den Konfliktbereich Autismus vorzustoßen, beschreibt das darauffolgende Kapitel Ableismus und Disableismus in diesem Umfeld speziell. Im Abschnitt „Begriff der Behinderung“ wird erläutert, was Behinderung bedeutet, was eine Behinderung ausmacht und worin Behinderungen begründet sind. Der zentrale Teil ist das Kapitel der Theorie des Ableismus, in dem die vorherigen Gedankengänge und Erkenntnisse synthetisch zusammengeführt und zu einer Theorie aufgebaut werden. Das letzte Kapitel fasst den Text noch einmal zusammen und beantwortet die eingängliche Fragestellung.

Eigene Einordnung

Als hetersexueller cis-Mann bin ich keinem strukturellen Sexismus ausgesetzt. Als Weißer bin ich auch nicht das Ziel von strukturellem Rassismus. Die Frage nach dem Klassismus lasse ich als Kind zweier recht verschiedener Familien ausgeklammert. Als Autist begegnet mir Disableismus jedoch sehr oft sowohl auf struktureller und institutioneller, als auch auf individueller Ebene. In den übrigen Fällen möchte ich die Frage nach der individuellen Diskriminierung offen lassen, da es je nach Definition und Theorie schwierig ist, die Frage nach individuellem Rassismus respektive Sexismus gegen Weiße respektive Männer zu beantworten (Stichpunkt transMänner, Migrant:innen zweiter Generation), doch würde ich spontan nicht auf einen Nachteil meiner Person durch diese Phänomene erkennen. Da sich dieser Artikel nicht mit jenen Themen beschäftigt, kann und will ich die gerade angesprochene Problematik auch nicht an dieser Stelle schließen. Da ich Autist bin und entsprechende Erfahrungen gemacht habe, werde ich diese in den Artikel einfließen lassen, wo qualitative Empirie angebracht ist.

Begriffsdefinition

Ableismus
Ableismus ist zu definieren als Glaubenssatz beziehungsweise Einstellung, derzufolge der als gesund, normal und nicht behindert geltende Mensch das Ideal darstellt und Menschen, welche nach Ansicht des Subjekts als krank oder behindert oder mental andersartig gelten, als abnormal betrachtet und als minderwertig angesehen werden.
Der Duden (https://www.duden.de/rechtschreibung/Ableismus, 06.05.2021) definiert Ableismus als „Abwertung, Diskriminierung, Marginalisierung von Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken aufgrund ihrer Fähigkeiten“. In diesem Artikel wird obrige Definition verwendet.
Dem Merkmal der Fähigkeiten folgend, schließen sich andere, wie Gregor Wolbring (University of Calgary) dem Duden im Fokus auf die Variable der Fähigkeiten an.

Disableismus
Diskriminierendes Verhalten auf Basis von Ableismus.

Diskriminierung
Ungleichberechtigung, Ungleichbehandlung, Herabwürdigung, Abwertung oder Ausschluss zum Nachteil von Menschen.

Egalitarismus
Chancengleichheit, gleicher Ressourcenzugang.

Gerechtigkeit
Zustand der Gültigkeit allgemeiner moralischer Prinzipien.

Minderwertigkeit
Nicht für die gleichen Chancen, Rechte beziehungsweise Berechtigungen, Werte oder die gleiche Würde qualifiziert.

Neurodiversität
Konzept der Vielfalt (Diversität) neurobiologischer Prädispositionen und Merkmalen. Hier wird zwischen neurotypischen Menschen und neurodiversen Menschen (Autist:innen, Menschen mit AD(H)S im engeren, im weiteren Sinne LGBTQ+) unterschieden.

Praktisch-allgemeine Beschreibung von Ableismus und Disableismus

Klassischer Disableismus äußert sich z. B. in Fehlen von barrierenfreien Gebäudezugängen, womit gehbehinderte Menschen ausgeschlossen werden. Weitere Beispiele sind akustische Durchsagen ohne schriftliche Anzeige, welche gehörlose Menschen benachteiligt. Struktureller Disableismus äußert sich jedoch auch in der Exklusion durch Nichtbeachtung. Vielerorts wird nicht an behinderte oder chronisch kranke Menschen gedacht. So wird in Schulen Wissen bisweilen auf eine einzige Art gelehrt, wie dem Abschreiben, was Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche benachteiligt. Führungsstreifen für Blindenstöcke werden oft nur unzureichend oder überhaupt nicht farblich markiert, was Menschen mit eingeschränkter Sehleistung das Auffinden dieser Streifen erheblich erschwert.
Diese Beispiele sollen einen Eindruck vermitteln, welche Formen Disableismus annehmen kann. Zweifellos handelt es sich dabei nur um eine Auswahl, bei aufmerksamer Beobachtung werden sich zahllose Beispiele finden lassen.

Praktisch-spezielle Beschreibung von Ableismus und Disableismus zum Nachteil von Autist:innen

Eine solche Beschreibung könnte Bücher füllen. Für eine umfangreiche Darstellung empfehle ich das „Schwarzbuch der Diskriminierung von Autisten“ (http://auties.net/book/export/html/168). Auf institutioneller Ebene ist als Beispiel der erhebliche Mangel an Diagnosemöglichkeiten gerade für erwachsene Autist:innen zu nennen. Weiterhin das Fehlen eines einheitlichen Diagnoseschemas, die im ICD-11 wegfallende, doch noch gebräuchliche Separierung von Autismus in Syndrome oder hoch- und niedrigfunktionalen Autismus oder auch die auch in der psychologischen und psychiatrischen Fachwelt oftmals unzureichende Qualifikation. So wollte mir eine Psychiaterin einst erklären, was ich als Autist verstehen könne, obwohl ich es nicht verstand. Auch wird auch in der Fachwelt und nach eigenen Erfahrungen eine hohe Anpassungsfähigkeit mit geringer Ausprägung von Autismus gleichgesetzt, obwohl dies so wenig stimmt, wie ein guter Schauspieler für einen Filmbösewicht tatsächlich böse ist.
Auf struktureller Ebene findet man Disableismus zum Nachteil von Autisten in Form von unnötig intensiven Reizemittern, z. B. leuchtenden Werbetafeln. Weiterhin begegnet einem diese Form der Diskriminierung oft im Sprachgebrauch, wenn Autismus falscherweise als Krankheit bezeichnet wird, oder die Existenz als Autist:in mit Leid gleichgesetzt wird („XY leidet an Autismus“), wie z. B. hier: https://www.fr.de/frankfurt/moritz-sprechen-lernte-11094270.html. Besonders grausame Züge nimmt dies an, wenn Morde an Autist:innen maginalisiert wird oder sogar mit den Tätern sympathisiert werden, wie hier: https://mn.gov/mnddc/news/inclusion-daily/2004/06/060204auabusedawes.htm. Weitere Ausführungen und Beispiele dafür hier: https://autisticadvocacy.org/2012/04/killing-words/. Auch das framen als untauglich oder geisteskrank fällt in den Bereich der sprachlichen Diskriminierung, z. B. hier: https://bit.ly/3bfI9R7, z. B. hier: https://bit.ly/2RBUCb1.
Strukturell Diskriminiert werden Autist:innen jedoch auch und besonders durch gesellschaftliche Normen. Körperliche Berührungen können für Autist:innen sehr intensiv sein. Dennoch wird vielerorts auf den Handschlag zur Begrüßung bestanden. Wer nicht lächelt, gilt als griesgrämig und unhöflich. Stimming durch z. B. wiederholende Bewegungen gilt als ablenkend und störend und wird gerügt. Die Liste an Vorurteilen zum Thema Autismus ist lange und wurde von mir im gleichnamigen Bericht bereits thematisiert. Unabhängig von der individuellen Ausprägung des Autismus wird Autist:innen oft eine Karriere in sensiblen Berufen, wie manchen Polizeibehörden, verwehrt (https://bit.ly/3y1rScb, hier wird AD(H)S als Ausgrund der „Seelischen Instabilität“ genannt. Autismus zwar nicht explizit, doch ist Autismus mit AD(H)S verwandt). Die Fernsehserie „The good doctor“ greift dies auf.
Ebenfalls grausam ist die Folge aus der Unwissenheit vieler Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und auch vieler Ärzte zum Thema Overloads, Meltdowns und Shutdowns. Während mir nach einem Meltdown in einem Krankenhaus schon gedroht wurde, dass Zwang (Zwangsmedikation, Einweisung auf eine geschlossene Station) gegen mich eingesetzt wird, wenn dies erneut auftreten sollte, ist es mehr als realistisch, dass dies bei anderen AutistInnen tatsächlich umgesetzt wurde, da bei einem Meltdown leicht auf Fremdgefährdung fehlgeschlossen werden kann, wenn Berührungen körperlich abgewehrt werden, oder auf Eigengefährdung, wenn dieser z. B. als Psychose fehlerkannt wird. Da es in der akademischen Medizin, wie ich selbst erfahren habe, praktisch keine Fehlerkultur gibt, kann ein solcher Irrtum schwerwiegende Konsequenzen haben. Auch die noch immer angewandte ABA-Therapie ist als strukturelle Diskriminierung zu sehen. Nicht nur, dass das US-Verteidigungsministerium in einer Studie 2020 nachgewiesen hat, dass sich „Erfolge“ und „Misserfolge“ bei ABA die Waage halten, also kein therapeutischer Effekt allgemein nachweislich ist, sondern auch die Anerziehung „normaler“ Verhaltensweisen durch Belohnung und Strafe (oder negatives bzw. positives „Reinforcement“, wie ABA-Therapeuten es nennen) zum Zwecke der ständigen Auslöschung autistischer Verhaltensweisen (https://taz.de/Umstrittene-Autismus-Therapie/!5358260/) stellen eine eindeutige Diskriminierung dar: Autismus wird die Existenzberechtigung abgesprochen. Skinner entwockelte ABA auf Basis der Erziehung von Tieren, nicht von Menschen (Wikipedia), Lovaas entwickelte die Therapie maßgeblich weiter – hin zu ABA, wie wir es heute kennen in der Form, dass ABA nach den gleichen Mustern wie die 2017 in Deutschland an Minderjährigen verbotene Konversionstherapie zur „Heilung“ homosexueller Menschen. Die Konversionstherapie ist übrigens auch ein Werk Lovaas‘. Andere Verhaltenstherapien, welche die Bedürfnisse und individuellen Interessen der Therapierten mit einschließt, und nicht auf eine Verbesserung von Autismus, sondern lediglich auf ein Vermitteln von Taktiken, damit Autist:innen sich in dieser Welt zurecht finden können, abzielt, ist wesentlich angemessener.
Auf individueller Ebene zeichnet sich die Diskriminierung in erster Linie durch Vorurteile und Verallgemeinerung aus, sowie durch Marginalisierung. Vorteile, wie „Autist:innen haben keine Gefühle“, oder „Autist:innen sind geistig eingeschränkt“, oder auch das Vorurteil, welches mir einmal begegnete, Autist:innen seien unvorhersehbar aggressiv schließen diese aus der Gesellschaft aus. Verallgemeinerungen negieren ihre Individualität. Härtere Formen stellen Beleidigungen und Angriffe auf Basis des Autismus dar. So habe ich mich diesbezüglich schon mit hier nicht zitationsfähigen Begriffen beschimpfen lassen müssen. Marginalisierungen sind auch alltäglich gegenwärtig. Hier wird in Frage gestellt, dass Autist:innen bestimmte Bedürfnisse (z. B. nach Ruhe oder Stimming) haben, ihre Wahrnehmung wird hinterfragt, (z. B. dass es gar nicht so laut sei, dass man Ohrschützer brauche, s. g. „Gaslighting“), ihnen wird entgegen gehalten, sie müssten sich nur mehr anstrengen, dann könnten sie sich „ausrechend“ anpassen.

Begriff der Behinderung

Landläufig wird als Behinderung negativ konnotiert und die Ursache in der behinderten Person gesehen. Das Paradebeispiel liefert die Definition des Duden für das Wort „behindert“: „infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/behindert, 06.05.2021). Dieser Begriff wird, wie in der Einleitung erwähnt, dem Neurodiversitätsgedanken nicht gerecht, der in Begriffen der neurobiologischen Diversität denkt. Dem Autismus wird es gänzlich nicht gerecht, da Autismus von vielen Betroffenen nicht als Schaden betrachtet wird. Autismus geht mit Vor- und mit Nachteilen einher. Eine pauschale Darstellung als Schaden ist zu undifferenziert. In der Definition des Duden denkend und die Neurodiversitätstheorie beachtend wäre Autismus also keine Behinderung. Und doch ist in Deutschland für Autismus ein Grad der Behinderung von 0 bis 100 vorgesehen. Dennoch sind manche Dinge Autist:innen schwer bis überhaupt nicht möglich. Ich für meinen Teil kann mich, ob der Beleuchtung, der oftmals sehr farbintensiven Auswahl, der vielen tonemittierenden Menschen, der Hintergrundmusik und oft auch der speziefischen Gerüche wegen, nur eine begrenzte Zeit in Ladengeschäften aufhalten.
Somit bedarf es eines neuen Begriffes der Behinderung. Den nicht kritisierten Teil der Definition des Duden aufgreifend ist eine Behinderung eine Beeinträchtigung. Ironischerweise definiert der Duden eine „beeinträchtigen“ als das Ausüben einer behindernden Wirkung (https://www.duden.de/rechtschreibung/beeintraechtigen). Beide Begriffe sind dahingehend recht synonym. WIkipedia greift das deutsche Sozialrecht auf und definiert Behinderung auf seiner entsprechenden Seite als „Als Behinderung bezeichnet man eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer Person. Verursacht wird diese durch die Wechselwirkung ungünstiger sozialer oder anderer Umweltfaktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der Betroffenen, welche die Überwindung der Barrieren erschweren oder unmöglich machen.“ (Farbänderungen/Fettdruck im Original). Dies erscheint schlüssiger und zeigt das entscheidende Element auf: Die Wechselwirkung. Eine Behinderung entsteht in einer Wechselwirkung. An und für sich, in einer für die behinderten Personen idealen Welt, entsteht keine Behinderung. Denn Behinderung ist eine Folgeerscheinung aus Krankheit, Störung oder Andersartigkeit, nicht Krankheit, Störung oder Andersartigkeit selbst. Merkmale wie Sexualität oder Hautfarbe fallen nicht darunter, da eine Exklusion von beispielsweise homosexuellen oder schwarzen Menschen nicht einer Wechselwirkung entspricht, sondern auf Vorurteilen und Ideologie beruht. Doch eine ungünstige Umwelt, wie der beschriebene Laden, steht in Wechselwirkung mit dem Fehlen von mentalen Filtern bei meiner Person. Wären Läden nach meiner Vorstellung gestaltet, wären sie dunkler, ohne Hintergrundmusik, zumeist anders sortiert und auf eine maximale Besucherzahl ausgelegt. Ebenso verhält es sich mit beinamputierten Menschen: Mit Zugang zu hochentwickelten Prothesen besteht nur eine geringe Beeinträchtigung. An manchen Stellen kann eine Beinamputation sogar von Vorteil sein, auch wenn dies nur sehr selten der Fall ist. Man denke sich das Beispiel des beinamputierten Piloten der Royal Air Force, der erheblich belastendere Manöver steuern konnte, da ihm das Blut nicht in die Beine sacken konnte. Es gäbe also zwei Möglichkeiten, eine Behinderung theoretisch auszuräumen: Neutralisierung der relevanten personenbezogenen Eigenschaften, oder relevanten Umweltfaktoren. Die Formulierung „Mensch mit Behinderung“ zeichnet sich als zu einseitig ab, weil diese Formulierung die Behinderung mit dem Menschen allein assoziiert. „Behinderter Mensch“ scheint treffender, da der Mensch hier passives Subjekt der Behinderung ist. Daher wird diese Formulierung hier Verwendung finden, doch natürlich gilt das Primat der Eigenidentifikation: Wer sich selbst als „Mensch mit Behinderung“ identifiziert, ist auch so zu benennen. „Behinderter Mensch“ signalisiert die Existenz anderer, aktiver (umweltbezogener) Faktoren als Ursache der Behinderung, während „Mensch mit Behinderung“ nicht nur die Behinderung an den Menschen allein bindet, sondern gleichzeitig beides voneinander differiert. Mensch ist nicht Behinderung, ist nicht Mensch – das ist bei Autismus, wie insgesamt im Neurodiversitätstheorem, ein kritisierter Streitpunkt.
Weil die Mehrheit der Deutschen keine lateinische Bibel lesen konnte, wurde diese von Luther übersetzt. Die Umweltfaktoren wurden angepasst, statt dass man den Bürgern Lateinunterricht gegeben hätte. Hier zeigt sich ein hochinteressantes Phänomen: Das des aktiven Hinderns. Wenn ich, hypothetisch gesprochen, in eine Steinrampe Stufen schlage, dann ist nicht die fehlende Fähigkeit zum Gehen ursächlich für einen fehlenden Zugang in ein Gebäude, denn dieser war zuvor mit Hilfe eines Rollstuhls problemlos gegeben. Ursächlich ist mein Einschlagen von Stufen. Diese Aktion hat die problematische Wechselwirkung hervorgerufen. Damit habe ich nicht Menschen mit Behinderung erzeugt, sondern aktiv Menschen behindert. Somit würde ein Problem erzeugt, was sich leicht und ohne Nachteil für andere ausräumen ließe: Durch das Neuanlegen einer Rampe. Und so verhält es sich mit sehr, sehr vielen Behinderungen. Sie wären durch Neutralisierung der Umweltfaktoren wesentlich einfacher zu beseitigen, als durch eine kollektive Anpassungsleistung der Betroffenen. Eine Nachtschaltung in Werbekästen einzurichten wäre einfach. Das Licht in Läden zu dimmen wäre einfach. Geschwindigkeiten innerorts auf 30 Km/h zu senken, um den Lärmpegel zu senken, wäre möglich. Andersartigkeiten und gefahrloses sonderbares Verhalten zu akzeptieren wäre einfacher, als auf ein bestimmtes Verhalten zu bestehen und Autist:innen zur Anpassung zu nötigen. Damit lässt sich festhalten, dass betroffene Menschen oftmals nicht per se behindert sind, sondern behindert werden.

Theorie des Ableismus

Wie an obrigen Definitionen zu erkennen, ist noch immer für viele Menschen der zentrale Begriff des Ableismus der der Fähigkeiten. Ihr Fehlen stellt die ausschlaggebende Variable bei der Identifikation von ableistischer Diskriminierung dar. Doch dieser Ansatz ist lückenhaft. Denn Autist:innen werden bisweilen auf Basis von fehlenden Fähigkeiten diskriminiert, die sie eigentlich haben. Die bereits erwähnte Serie „The good doctor“ zeigt das sehr gut: die Hauptperson ist ein voll qualifizierter Arzt, wird aber um ein Haar nicht eingestellt, da das Vorurteil im Raum steht, er sei nicht fähig, mit Patient:innen ordentlich umzugehen. Dabei hilft seine Sorgfalt bei der Behandlung. Ich war einmal in der Situation, dass eine schwangere Freundin von mir angegriffen wurde. Diese Situation habe ich auch in einem der hiesigen Berichte zum Thema Empathie geschildert. Ich hatte ein (legales!) Abwehrgerät. Während ich befürchte, dass viele überhaupt nicht eingreifen würden (was tatsächlich in diesem Fall auch so war), denke ich aber auch, dass manche in der Situation abgedrückt und so den Aggressor physisch abgewehrt hätten. Ich habe dies nur angedroht. Legal wäre es laut Polizei dennoch gewesen, der Angriff und damit die Not war manifest. Ich habe trotz großer Angst nicht abgedrückt, da mir diese Maßnahme noch nicht als Ultima Ratio notwendig erschien, die Drohung schien mir genug. Mein Verstand dominierte meine Gefühle. Die klare Trennung zwischen Gefühlswelt und Verstand ist ein Phänomen, welches im Autismus weit verbreitet und oft besonders stark ausgeprägt ist. Schon Kant, bei dem Autismus vermutet wurde, trennt beide Welten klar voneinander ab (Vgl. GmS), was einen Hauptkritikpunkt an seiner Arbeit darstellte (Vgl. Schillers dichterische Kritik an Kant). Es ist eine Fähigkeit, welche sicher auch im Polizeidienst hoch willkommen wäre und Schwachpunkte aufwiegt, denn jeder Mensch besitzt Stärken und Schwächen. Autist:innen also generell a priori von der Polizeiausbildung auszuschließen ist diskriminierend, denn sie könnten diese durchaus bestehen. Andere Gründe, wie ein Mindestmaß an Sehleistung ohne Brille sind einsichtiger, da Polizist:innen auch ohne Brille treffsicher schießen können müssen. Doch Autismus geht nicht und definitiv nicht in jedem Fall mit Phänomenen einher, die einen generellen Ausschluss rechtfertigen würden. Auch geringe Empathie ist kein Grund, gibt es doch auch autistische Psychotherapeut:innen. Dass diese Regelung doch existiert stellt institutionelle Diskriminierung von Autist:innen dar. Es lässt sich erkennen, dass Autist:innen Diskriminierung nicht nur auf Basis fehlender Fähigkeiten erfahren. Vielmehr stützt sich die Diskriminierung von Autisten auf subjektive Vorstellungen von Autismus. Gerade die Veröffentlichung auf CNN vom Beschuss und der schweren Verletzung eines 13-jährigen Autisten zeigt das (https://edition.cnn.com/2020/09/08/us/salt-lake-city-police-shoot-boy-autism-trnd/index.html). Die Polizisten schossen offensichtlich nicht als Reaktion auf eine Bedrohung, sondern wegen subjektiver Gründe, die durchaus mit Autismus zu tun haben müssen, andernfalls werden in den USA selten weiße, unbewaffnete 13-jährige erschossen. Dass Zwischenfälle dieser Art zwar Extema darstellen, doch Probleme zwischen Autismus und der Polizei nicht selten sind, zeigt sich daran, dass in den USA behinderte Menschen einschließlich Autisten fünf Mal häufiger von der Polizei eingesperrt werden (https://bit.ly/2R4F6V3), obwohl Autist:innen tendenziell nicht zu höherer Kriminalität neigen (https://de.wikipedia.org/wiki/Asperger-Syndrom#Kriminalstatistik). Empirisch fehlende Fähigkeiten rechtfertigen keine Ingewahrsamnahmen oder Festnahmen, sondern eine Verhaltenstherapie, um diese zu erlernen. Daher muss bezweifelt werden, dass die erhöhten Zahlen von fehlenden Fähigkeiten herrühren. Wahrscheinlicher scheinen Vorurteile, Fehlurteile und Minderwertigkeitsdenken gegenüber als behindert oder mental andersartig aufgefassten Menschen, einschließlich Autisten. Daraus folgt, dass die fähigkeitsbezogene Definition von Autismus zu kurz greift und die oben genannte Definition holistischer und, vor dem Hintergrund des neu erarbeiteten Begriffs der Behinderung als behindert-werden statt des behindert-seins, zutreffender. Sie lässt sich zudem mit der Definition von Autismusfeindlichkeit verbinden, als „Trifft eines dieser Kriterien zu, handelt es sich nicht mehr um bloße Kritik: Doppelmoral, Dämonisierung, Delegitimierung [von Autist:innen respektive Autismus, Anm. JW]“ (http://auties.net/book/export/html/168). Während darin keine klare begriffliche Differenzierung zu disableisticher Diskriminierung getroffen wurde, wurden diese drei Begriffe in der obrigen Definition aufgegriffen. Doppelmoral in den Ungleichbehandlungsbegriffen der Diskriminierung, Dämonisierung in der Herabwürdigung, Delegitimierung in der Abwertung. Auch in der Definition von Minderwertigkeit finden sie sich wieder. Aus Doppelmoral wird die fehlende Qualifikation für gleiche Rechte/Berechtigungen, aus Dämonisierung die fehlende Qualifizierung für gleiche Werte, aus Delegitimierung die f. Q. f. gleiche Würde.
Der Schlüsselbegriff der Minderwertigkeit als Geisteshaltung gegenüber dem Phänomen selbst ist nun ein Begriff, der einer genaueren Betrachtung bedarf. Denn eine Querschnittslähmung kann als nicht wünschens-werte Abnormalität betrachtet werden. Wo ist also die Grenze zwischen Ablehnung einer Einschränkung per se, und Ablehnung von Autismus? Hier gilt es, die Verbundenheit zwischen Phänomen und Person zu betrachten. Indizierende Variable ist die Frage, in wie weit das Phänomen die Person ausmacht, wie weit sich die Person darüber definiert, und wie sehr die Behinderung alleinig von dem Phänomen selbst und weniger von der Umwelt abhängt. Querschnittslähmungen, pathologische Intelligenzminderungen, chronische Depressionen, et cetera tragen einen mehr oder minder hohen Eigenanteil an der Behinderung oder dem subjektiven Leid. Verlust von Motorik oder Sensorik, von Denkkapazität oder Gefühlsleere und subjektiver Lebensqualität können zwar bis zu einem gewissen Grad durchaus von der Umwelt ausgeglichen werden (siehe z. B. Steven Hawkings technologische Hilfsmittel) und ggf. sogar von Vorteil sein (Kampfpiloten-Beispiel, s. o.), doch ist und bleibt die Einschränkung unausgeglichen. Bei Autismus ist dies nicht der Fall: Die andersartige Mentalität sorgt dafür, dass im Allgemeinen die „Schwächen“ „Stärken“ mit sich bringen. Das strukturelle Denken sorgt zwar für ein Angewiesen-sein auf Strukturen und Ordnungen, doch ermöglicht es, diese zuverlässig aufzubauen, und Abweichungen sofort zu erkennen, wo es gefragt ist. Und Strukturen sind in der Welt so wichtig, dass es im Polit(olog)ischen den Begriff der „Weltordnung“ gibt. Autist:innen mögen kaum in der Lage sein, die Gefühle von neurotypischen Menschen eins zu eins nachzufühlen, doch sie können durchaus mitfühlen, mitleiden und sich mitfreuen. Manche Autist:innen können nicht sprechen, doch erstklassig ganze Romane schreiben. Oder sie können Geräusche nicht filtern, erleben daher z. B. bevölkerte Plätze als höchst unangenehm, aber können aus dem selben Grund Musik viel intensiver genießen, als neurotypische Menschen. Die Ursachen der Behinderungen sind hier praktisch gleichmäßig auf personenbezogene und umweltbezogene Faktoren verteilt. Das macht den Unterschied zwischen der Minderwertigkeit und der Minderwünschbarkeit aus. Es ist absolut nachvollziehbar und verständlich, sogar vernünftig, niemandem Depressionen, pathologische Intelligenzminderungen, Demenz oder Amputationen zu wünschen. Autismus zu wünschen kann jedoch, wenn man die Vorurteile, die hinter einem solchen Wunsch vermutet werden können, streicht, und Autismus als das nimmt, was es ist, als normativ neutral betrachtet werden. Selbstverständlich sollte man sich derartiger Wünsche dennoch enthalten, da die eigene Neurodiversität oder Neurotypik eines jeden Menschen eigene Angelegenheit ist. Erkennbar wird jedoch, dass der Minderwertigkeitsgedanke des Ableismus von der Wünschbarkeit des fraglichen Phänomens unabhängig ist. Ableismus betrachtet Autismus als Minderwertig, wie es Demenz als Minderwertig betrachtet, und Trisomie 21, wie Querschnittslähmungen. Ableismus ignoriert entweder die Untrennbarkeit von neurodiversen Phänomenen mit der Person, oder es erweitert das Minderwertigkeitsdenken vom Phänomen ausgehend auf die Person.

Synthese und Schlusswort

Ableismus bedeutet die Ansicht vom als vom ableistischen Subjekt als krank, mental abnorm oder behindert betrachteten Objekt als minderwertig, also als nicht qualifiziert für gleiche Chancen, Werte, Recht/Berechtigungen oder gleiche Würde. Disableismus beschreibt jede darauf basierende Handlung. Richtet sich Ableismus gegen Autismus, kann dies als (bewusste/unbewusste) Autismusfeindlichkeit bezeichnet werden. Dieser Begriff verbindet die Spezifizierung auf den Bereich des Autismus mit dem Holismus der darin inkludierten Phänomene, und ist somit wahrscheinlich der treffendste. Autismusfeindlichkeit stellt im Wesentlichen eine Subsumption unter Ableismus dar. Da Autismus genetisch bedingt und somit untrennbar mit dem autistischen Objekt verbunden ist, besteht Ableismus auch, wenn das Subjekt versucht, zwischen Mensch und Autismus zu differenzieren, und sich das Minderwertigkeitsdenken „ausschließlich“ auf den Autismus bezieht. Disableistische Diskriminierung ist die Ungleichberechtigung, Ungleichbehandlung, Herabwürdigung, Abwertung oder der Ausschluss von Autist:innen aufgrund der Auffassung derselben als Autist:innen als minderwertig. Oft geschieht dies auf Basis des überholten Denkens von Autismus als Geisteskrankheit oder geistige beziehungsweise seelische Behinderung. Eine Bezeichnung, welche auf als solche erkannte mentale Behinderungen, Krankheiten oder Andersartigkeiten abzielt, und somit bewusst eine Unterscheidung von dem vorrangig in körperlich-physischem Kontext verwandten Ableismus trifft, ist Mentalismus (https://en.wikipedia.org/wiki/Sanism). Dieser Begriff kann daher unter Beibehaltung der obrigen Definitionen, ebenfalls verwendet werden. Bezüglich des Terminus der Behinderung ist festzuhalten, dass Behinderungen stets in einem situativen Kontext entstehen, durch die Wechselwirkung von personen- und umweltbezogenen Elementen. Das bedeutet, Menschen sind nicht a priori behindert, sie werden behindert respektive erfahren Behinderungen im Kontext der Umwelt. Um eine allgemein und besonders sozialstrukturell gerechte Gesellschaft herzustellen, bedarf es der Beachtung dieser Begriffsinhalte, um Vorurteile aufarbeiten zu können und ein inklusives Miteinander auf Augenhöhe zu pflegen. Dies ist nötig, damit einerseits die Gesellschaft von den Fähigkeiten und der Vielfalt der Neurodiversität profitieren kann, und andererseits, damit Autisten und Autistinnen und andere Menschen des neurodiversen Spektrums eine vollwertige gesellschaftliche Teilhabe und die ihnen zustehende Würde und Wertschätzung erfahren können.

Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit

Ich habe diese Seite sehr lange nicht mehr weiter geführt. Das lag zum einen daran, dass ich alle Hände mit anderen Dingen zu tun hatte und auch daran, dass ich um kein Thema mehr wusste, worüber ich schreiben könnte.
Nun, das hat sich jetzt geändert. Zumindest zeitweilig. Denn ich habe mich sowohl durch das Studium als auch privat mit dem Themenkomplex der Sozialen Gerechtigkeit befasst. Darüber möchte ich hier nun schreiben und beschreiben, was und wie ich als Autist darüber denke, welche Maßstäbe ich als Privatpersonen an Gerechtigkeit anlege, welche Theorien ich dazu heranziehe und wie ich mit Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit umgehe.
Zunächst zur Ausgangslage vor ungefähr einem Jahr. Persönliche Erfahrungen und Gedankengänge brachten mich dazu, von meinem christlichen Glauben Abstand zu nehmen, und mich dem Agnostizismus zuzuwenden. Ich weiss nicht, ob es einen Gott gibt und ich kann nicht guten Gewissens dennoch überzeugt davon sein. Ich muss es auch nicht wissen. Denn den Blick immer auf das Transzendentale und das Jenseitige zu richten, ermöglicht es mir nicht, das Gegenwärtige ordentlich zu würdigen und den Moment zu schätzen. Darum habe ich (unter anderem) den entsprechenden Bericht dazu gelöscht; er ist nicht mehr aktuell. Mein Interesse am Politischen jedoch, sowie meine Familiengeschichte und mein Freundeskreis führten mich zu einem interessanten kognitiven Problem. Denn einer meiner Urgroßväter, welcher mich auf meine chronologisch zweite Spezialinteresse, die Eisenbahn, brachte, war Lokführer. Im dritten Reich fuhr er für die Reichsbahn. Zeitlebens bestritt er, Deportationszüge gefahren zu haben und es wäre nach all der Zeit kaum zu beweisen gewesen. Ob seine Aussage stimmt, wissen wir aber auch nicht. Andererseits ist eine gute Freundin von mir Jüdin. Während es also zumindest denkbar ist, dass mein Nachname mit dem Blut der Dahingeschlachteten von Auschwitz, Kulmhof, Sobibor, Majdanek, Treblinka und all der übrigen Endhalte der Menschlichkeit besudelt wurde, wäre dieser liebe Mensch damals wie Mezvieh ausgelöscht worden. Und auch meine beste Freundin, die im gleichnamigen Bericht beschriebene Timekeeperin, wäre mit gewisser Wahrscheinlichkeit gefoltert oder getötet worden. Selbst mir als strategischem Analysten für sicherheitspolitische Strategien fällt es schwer, bei diesem Gedanken Ruhe zu bewahren. Denn wie auch Geisteskranke und Menschen mit Trisomie 21 wurden Menschen, welche für die Gesellschaft nicht „brauchbar“ waren, isoliert und getötet, beispielsweise bei der „Aktion T4“. „Unwertes Leben“, wie es das der „Autistischen Psychopathen“ darstellte, wurde unter dem Deckmantel des Gnadentodes vernichtet. Siebenhundertneunundachtzig Tötungen wurden in der „Jugendfürsorgeanstalt“ Am Spiegelgrund registriert. Hier arbeitete Kinderpsychiater Hans Asperger. Und an den hier vegetierenden Autisten erforschte er das nach ihm benannten Syndrom. Ob die Zahl aber alle Kinder erfasst, welche vergast wurden, totgefoltert wurden, die man hat verhungern lassen oder den dortigen medizinischen Experimenten zum Opfer fielen, lässt sich wohl nicht mehr feststellen. Zuletzt kenne ich mich. Ich weiss, dass ich gut sein kann. Dass ich als Rettungssanitäter und Feuerwehrmann bereit bin, für das Leben zu schwitzen und bis zur Erschöpfung zu kämpfen. Ich weiss, dass ich lieber um drei Uhr nachts von einem Freund in Not angerufen werde, als dass er oder sie nicht mehr weiter weiss. Ich kann jedoch auch böse sein. Ich kämpfe mit meinem bitteren Zynismus und wenn ich nicht Acht gebe, dann verletze ich bisweilen Menschen tief. Welche Seite ich in einem anderen Leben gewählt hätte, ob ich im Nationalsozialismus gut von böse unterschieden hätte, weiss ich nicht. Es hätte sein können, dass ich unter den Getöteten gewesen wäre, ich hätte aber auch ihr Henker sein können.
Ohne Glauben und mit dem Wissen, anders zu sein als 99% der Gesellschaft, bedeutet, dass man sich zumindest in Teilen selbst beibringen muss, was gut und was böse ausmacht. Die Theorien Immanuel Kants haben mich dabei sehr inspiriert. So sehr, dass ich tatsächlich eine qualitativ gute und forschungstechnisch neue Studienarbeit dazu verfasste, in der ich auch vermerkte, was ich weder als erster, noch als einziger vermutete: Kant war Autist. Seine Ethik sind so schnörkellos, progressiv ausgearbeitet und klar, dass Wolfgang Kersting seine Rezeption mit „Wohlgeordnete Freiheit“ überschrieb. Im Prinzip und vereinfacht besagt sie, dass dasjenige Prinzip gut ist, was ein jeder vernünftige Mensch respektieren kann, wie zum Beispiel das Recht auf Leben. Zuvor hatte ich mir wenig Gedanken um Gerechtigkeit gemacht, da ich von anderen Menschen eher einen ausgleichenden Gerechtigkeitsbegriff gekannt habe. Dieser bestimmt Gerechtigkeit anhand des Vergleiches der Verhältnisse des Menschen X mit jenen des oder den Menschen Y. Aber die Menschen sind zu verschieden, um sie alle „über einen Kamm scheren“ könne. Simples Beispiel: Wenn du 3 Kinder hast, eines ist laktoseintolerant und du hast 12 Stücke Schokolade – wie viele kriegt jedes Kind? Natürlich zwei sechs und eines keines. Das kriegt dann vielleicht nachher sechs Gummibärchen, das wäre fair, denn des würde das Kind nach dem gleichen, egalitaristischen Prinzip behandeln, aber keine Schokolade und damit findet keine reine Gleichbehandlung statt.
Die prinzipielle Gleichberechtigung, die die Ungleichbehandlung in Bereichen, in der sie angebracht ist, berücksichtigt, muss also der Schlüssel sein. In der Welt findet diese aber an vielen Punkten nicht statt. Rassismus, Ableismus (die Diskriminierung als „behindert“ betrachteter oder tatsächlich behinderter Menschen), Verfolgungen von religiösen Gruppen, Unterdrückung von homosexuellen oder transsexuellen Menschen und Frauen, Ausbeutung, Kindersoldatentum, das alles sind Probleme, welche in der Welt leider nur sehr langsam aufgearbeitet und neutralisiert werden können. Und wieder stehe ich zwischen zwei Fronten, wenn auch nicht derart krass, wie im oben genannten Gedanken. Ich bin ein deutscher, heterosexueller Mann, also von einer Systemstruktur, welche auf rigiden, traditionellen Rollen basieren, großteils profitierend. Andererseits bin ich Autist, was gesellschaftlich noch immer oft als Makel, als Krankheit, als Tragödie oder Missbildung betrachtet wird. Hochoffiziell und rechtlich vorgeschrieben darf ich als Autist bestimmte Berufe eigentlich nicht ergreifen. So schließt die Polizei Hamburg Menschen mit ADHS und ähnlichem (Autismus und ADHS sind ähnlich und es gibt Anhaltspunkte, eine genetische Ähnlichkeit zu vermuten) kategorisch aus. „Behindert“ wird bisweilen als Beleidigung genutzt. Und wenn man sich die Kommentare unter Posts über Greta Thunberg anschaut, dann erfährt man bisweilen auch sehr schnell, wie doch einige Leute über Autisten denken.
Diese Fronten lassen sich aber auflösen. Ich bin weder in einer Täter- noch in einer Opferrolle. Ich stehe manchmal auf der Seite der Benachteiligten, manchmal nicht. So habe ich keine Nachteile in meinem beruflichen Werdegang aufgrund unveränderbarer Determinanten (Geschlecht, Name, etc.) zu erwarten. Und um offen zu sein: Dass Frauen auch dem bereinigten Gender Pay Gap zufolge schlechter bezahlt werden als Männer, die also bei gleicher Qualifikation der gleichen Arbeit nachgehen, ist unanständig. Die Differenz ist zwar gering, aber durchschnittlich 1,14€/Arbeitsstunde (Quelle: Rippl, TU Chemnitz) summiert sich auf. Als Arbeitgeber zahlt man ja, mit Verlaub, nicht für den Penis seines Arbeitnehmers, man zahlt für die geleistete Arbeit – und in vielen Fällen ist diese nicht vom Geschlecht abhängig. Und in den wenigen verbleibenden Fällen, zum Beispiel bei den Feuerwehren, der Armee, etc. wird gleich bezahlt, denn hier gibt es schlicht ein Auswahlverfahren, welches alle Menschen zulässt, welche die natürlicherweise hohen körperlichen Anforderungen des Berufes erfüllen. Meine Ansicht hierzu: Wer es kann und wer es will, soll es tun dürfen.
Diese Chancengleichheit ist aus meiner Sicht das anzustrebende Ziel. Was dem im Weg steht, sind Vorurteile und alte, traditionelle Rollenbilder: Der Mann arbeitet, die Frau hütet das Heim. Diese Rollen gehen mit bestimmten Charakteristika einher (männlichen und weiblichen Rollenbildern), die schon durch die Erziehung vermittels werden. Sätze an Jungs wie „Sei keine Heulsuse“, „Mädchen schlägt man nicht/Jungs raufen eben“ und Kindermärchen, in denen der männliche Held stets den aktiven Part einnimmt, während die Prinzessin passives Zentrum des Geschehens ist, prägen sich ein. Genauso die Sätze an Mädchen. „Lass dass jemand anders machen, du bist zu schwach dazu.“, „Das ist nichts für Mädchen“ und „Sei nicht so zickig“, wenn sich ein Mädchen behauptet, determinieren ebenfalls eine Rolle. Diese Rollen werden spätestens dann zu einem manifesten Problem, wenn sie der individuellen Freiheit des vernünftigen, verantwortungsbewussten Menschen entgegengestellt werden. Wenn ein Mädchen davon träumt, Pilotin zu werden und diesen Traum verfolgt, sollte sie die Chance dazu bekommen, die Ausbildung zu versuchen. Ein Abschmettern der Bestrebungen dazu mit der Begründung, dies sei ein Männerberuf, ist schlicht unvernünftig. Dieser Egalitarismus der Chancengleichheit, der gleichen Würde und der gleichen Achtung muss schon, so denke ich, auf einem alltäglichen Niveau beginnen. Gedanken formen Sprache, aber Sprache formt auch Gedanken. Von „Studierenden“ zu sprechen und zu schreiben, wenn man nicht ausschließlich Studenten meint, ist zweifellos eine Umgewöhnung. Ich selber habe damit auch noch ab und an Schwierigkeiten, verwende „Autisten“ statt „autistische Menschen“ („Menschen mit Autismus“ lehne ich ab, das klingt zu sehr nach Krankheit, nach „Menschen mit Krebs“.) Doch diese Ausdrucksweise ist korrekter und präziser, weshalb ich sie für sinnvoller halte, als rigide am generischen Maskulinum festzuhalten.
Denn Präzision ist ein Schlüsselpunkt. „Ex ungue leonem“, „Aus der Pranke den Löwen (erkennen)“, das ist die Funktionsweise meines Gehirnes. Und oft erkennt es den Löwen erst nach der vierten begutachteten Pranke. Das Detail fällt mir meist leichter zu erkennen, als das Allgemeine. Von feministischer Seite hört man oft den Satz „Männer vergewaltigen Frauen“. Und meist kommt die Entgegnung „Nicht alle Männer!“, woraufhin die Rechtfertigung fällt, dass das auch so nicht gesagt worden sei. Dabei wäre es kein signifikanter aufwand, die Relativierung einzufügen und zu schreiben, „Manche/Zu viele/Einige Männer vergewaltigen Frauen.“, oder noch präziser: „Kriminelle/triebhafte/moralisch völlig degenerierte Sexisten vergewaltigen Frauen“, aber eine bestimmte Wortwahl möchte ich mir keinesfalls anmaßen, vorzugeben. Es geht um die Genauigkeit. Es sollte klar und inhaltlich korrekt sein, was gemeint ist. Ein Satz wie „Es gibt keinen Rassismus gegen weiße Menschen.“ Ist mit großer Wahrscheinlichkeit falsch, denn ich benötige nur einen einzigen Fall von Rassismus gegen weiße, um den Satz zu entkräften. Höchstwahrscheinlich korrekt (und wohl auch zumeist intendiert) ist die Aussage, es gäbe keinen strukturellen oder institutionellen Rassismus gegen, also keine gesellschaftstragende oder gouvermentale Diskriminierung Ungleichbehandlung von weißen.
Ein weiteres, doch umstrittenes Element, ist die Enthaltung. In manche Themen soll man(n) sich nicht einmischen, im Falle des Feminismus z. B. die Abtreibungsdiskussion. In anderen Fällen wird ein Schweigen pauschal als Zustimmung zu Ungerechtigkeit betrachtet. Ich favorisiere den Grundsätze, mich nicht einzumischen, wo ich nicht involviert bin, und den Grundsatz, dass stets die Beschränkung von Freiheiten begründet werden muss, nicht die Gewährung. So dürfen nach aktueller Regelung homosexuelle Menschen trotz lebensbedrohlichem Mangel an Konserven nur nach einem Jahr sexueller Enthaltsamkeit Blut spenden. Dies wird mit einem erhöhten HIV-Infektionsrisiko begründet (Quelle: Ärzteblatt). Aber jede einzelne Spende wird ohnehin auf das HI-Virus hin untersucht und infiziertes Blut nicht weitergegeben (Quelle: Bayrischer Blutspendedienst). Mit Wegfall der Begründung sollte, so denke ich, die Beschränkung aufgehoben werden – eine Begründung für die Aufhebung ist nicht notwendig. Der Nichteinmischungsgrundsatz wird bei der so genannten „Ehe für alle“ deutlich: Ich erfahre keinerlei Nachteile dadurch – welches Recht habe ich also, mich dagegen zu stellen? Anders wäre es, wenn moralische Grundwerte auf dem Spiel stehen: Einen lebens- respektive empfindungsfähigen Embryo abzutreiben darf nicht einfach so geschehen. Hier muss eine tatsächlich sehr schwerere Abwägung getroffen werden. Leben steht hier auf dem Spiel. Leichtfertig darf diese Entscheidung nicht getroffen werden und pauschale Lösungen gibt es nicht. Denn ich bin mir sicher, eine Frau, die ihre Schwangerschaft zu fortgesetztem Zeitpunkt abbrechen will, strebt dies in der Regel aus einer Not heraus an, die ernst genommen werden muss. Weder sollte eine Abtreibung bis zuletzt ohne umfangreiche Beratung möglich sein, denn Notlagen führen oft zu Tunnelblicken, was Lösungen angeht. Noch sollte das Leben (biologisches, wie menschliches) einer Frau riskiert werden, um eines Zellhaufens wegen, welcher sich zu einem Baby entwickelt. Irgendwo innerhalb dieser Extrema ist für jeden Fall einzeln das verborgen, was der richtigen Lösung am nächsten kommt.
Präzision wirkt gegen Pauschalisierung. Eine unabhängige Moral erlaubt nicht, Minderheiten zu übergehen. So hilft es keineswegs, mit einem Satz wie „Männer vergewaltigen Frauen“, wenn man einen nachhaltigen Effekt zu Gunsten sexueller Selbstbestimmung abgeben will. Einerseits, weil der Satz ignoriert, dass auch Männer von Frauen vergewaltigt werden können. Zum anderen, weil diese Pauschalisierung unterschiedlichen kriminologischen Elementen, wie Motiven, Modus Operandi, etc., nicht gerecht wird. Belehrungen wirken nicht zur Verhinderungen von Triebtaten, Affektsteuerungen wirken eher. Diese wird nicht mittels Statements und Forderung nach Einsicht vermittelt. Gleichsam wird eine Pauschalisierung ebenso wenig der Realität entfernt, wie die erwähnten Rollenbilder. Männer sind ebenso wenig immer „Gewinner“, Begünstigte des Patriarchats (zu definieren als eine Gesellschaft, welche sich am männlichen Rollenbild orientiert, die Männer besser durchschnittlich bezahlt, die Frauen auf Basis ihrer Sexualität beleidigt („Fotze“),…), wie Autisten immer behindert sind. Während die Behinderung im Leben von Autisten praktisch ausschließlich kontextbezogen existiert und sich Autisten in der Regel pudelwohl fühlen würden, würden sie die Welt nach ihren Vorstellungen gestalten können, begünstigt die patriarchale Gesellschaftsstruktur Männer, wenn sie dem männlichen Rollenbild entsprechen. Praktisch unerforscht bleiben nicht nur weibliche Besonderheiten bei vielen Medikamenten („gender data gap“), sondern auch die Ursachen für eine wesentlich höhere Suizidrate unter Männern und dabei die Wahl besonders brutaler Methoden (Quelle: Uni Münster). Frauen unterliegen einem unvernünftig hohem sozialen Druck bezüglich ihres Aussehens. Andererseits ist der Druck auf Männer, beim Aussehen auf Männlichkeit zu achten, ebenfalls hoch und wird zudem noch immer als selbstverständlich betrachtet. Hier ein Perspektivwechsel. Als Autist kleide ich mich nur auf eine bestimmte Art und Weise. Kurze Hosen sind für mich wie ein Fehler in der Matrix. Andere Autisten tragen andere Kleidungsstücke nicht, manche haben auch fast keine Probleme damit. Für mich jedoch wäre das, wie wenn man im Ballkleid zum Fernsehabend ginge, oder im abgerissenen Schlaf-T-Shirt auf eine Hochzeit – es kommt einem falsch vor. Ich erlebe falsche Kleidung jedoch noch intensiver. So trage ich zum Beispiel niemals gelb. Eine meiner beiden Armbanduhren kann ich nicht zu Hemden tragen. Und Schuhe müssen braun, grau oder schwarz sein, dürfen höchstens zwei Farben haben und wenn sie mehrfarbig sind, ist schwarz eine der Farben. Muster sind auch tabu. Und so wird es bisweilen schwierig, Klamotten für mich zu finden. Das Problem wird durch sehr temperaturempfindliche Hände und Füße verstärkt. Schwarze Handschuhe findet man in beinahe jedem Laden, aber passende, schwarze Winterstiefel beispielsweise sind schwieriger zu finden. Und tatsächlich habe ich mir bei zu geringer Auswahl bisweilen schlichtweg Schuhe aus der Frauenabteilung besorgt, denn zum Teil sind die Unterschiede marginal, zum Teil ist es mir einfach wichtiger, nicht zu frieren. Hier versagt also die Rolle des modeunbewussten Mannes an einem „zu“ sensiblen und selektiven Mann.
Die Aufarbeitung der Rollenbilder muss also sämtliche Rollenbilder betreffen. Alleine das Rollenbild der Frau aufzuarbeiten, Männer aufzufordern, Frauen anders zu behandeln und dabei das männliche Rollenbild unangetastet zu lassen, erzeugt Dilemmata und diese Konflikte. So auch bezüglich Autismus. Autisten und Autistinnen als „krank“, „heilbedürftig“ oder als minderwertig und zu sehen und daher unbedingt „normalisieren“ zu wollen, muss revidiert werden. Mittels Verhaltenstherapie und Pädagogik Autisten zu ermöglichen, Skills zu lernen, um als Autisten sich in dieser Welt zurecht zu finden, ist wünschenswert. Ihnen den Autismus austreiben zu wollen, ist nicht nur unmöglich (Autismus ist nicht heilbar), sondern auch schädlich. Die Konversionstherapie, die dem Zweck der „Umerziehung“ homosexueller Menschen zur Heterosexualität dient, wurde nicht nur in Deutschland erst vor kurzem verboten – sie wurde von dem selben Mann begründet, der die „Applied Behaviour Analysis“ begründete: Ole Iver Lovaas. Sein erstes Forschungssubjekt übrigens blieb bis zu seinem Suizid homosexuell. Beide Therapien begründen auf dem selben Grundsatz: Erwünschtes Verhalten belohnen, unerwünschtes Verhalten bestrafen (vereinfacht). Die schlimmsten Auswüchse dieses Änderungsbestreben zeigten sich unter anderem bis April 2020 im US-amerikanischem Judge Rotenberg Education Center, wo zur Bestrafung Schmerz durch Elektroschocks verwendet wurde, was der Beauftragte der UN als Folter anerkannte. Mir selbst liegen Berichte vor, in denen ausgebildete Therapeuten reizüberflutete Meltdowns mit trotzigen Tantrums, Wutausbrüchen, verwechselten. Wenn man bedenkt, in wie vielen Teilen der Welt und in wie vielen Familien auch in Deutschland noch immer körperliche Gewalt gegen kindliche Aufsässigkeiten eingesetzt wird, und wie viele autistische Kinder undiagnostiziert sind, ergeben sich besonders für mich als Autisten düstere Ahnungen. Meltdowns sind eine der schlimmsten Erfahrungen, die ich kenne. Sie werden, mit massiv stärkeren Reizen, um die nichtautistischen mentalen Reizfilter zu durchbrechen, unter anderem in Guantanamo zu Folterzwecken provoziert. In diesem Zustand können für mich schon Berührungen Schmerzen gleichkommend unangenehm sein. Hier einem Kind Schmerzen zuzufügen, die geeignet sind, ein nichtautistisches Kind zu brechen, ist nicht nur unzivilisiert und widerlich, es ist schlicht grausam.
Erkennbar wird, dass die Frage der Gleichberechtigung und besonders an ihren Schnittpunkten mit der Gerechtigkeit, mit gegenseitiger Achtung zu tun hat. Mit dem Respektieren der anderen Sichtweise und der Wahrnehmung anderer Menschen. Ich würde mir wünschen, dass die Debatten über Themen, wo Diskriminierung und Vorurteile herrschen, jene einschließen und zu Wort kommen lassen, die über die nötige Erfahrung verfügen. In Talkshows zum Thema Rassismus nur unbetroffene zu setzen, verfehlt das Ziel und würde ihm auch nicht wirklich gerecht werden, wenn alle Teilnehmer aus Fachleuten bestünden – Sachkenntnis und Erfahrung arbeiten zusammen am besten. Entsprechend missfällt es mir, wenn in vergleichbare Runden zum Thema Autismus ein Psychiater eingeladen wird, der Autismus „second hand“ beschreibt, statt zuerst einen Autisten zu befragen. Dass es möglich ist, dass Autisten und Autistinnen oft offen ihre Erfahrungen weitergeben, schlägt sich in einer aktuellen Studie von Ines Hickl der Universität Mannheim nieder, welche die Eindrücke von autistischen Menschen zur Darstellung von Autismus in den Medien untersucht.
Die Fragen und Herausforderungen der Gleichberechtigung und der sozialen Gerechtigkeit werden uns weiter beschäftigen und auch neue Formen annehmen. Ich wünsche mir, dass wir uns Lernfreude aneignen und erhalten, um uns den Herausforderungen immer wieder neu stellen zu können und Erfahrungen sammeln. Erst durch den Diskurs habe ich gelernt, was ich über diese Themen des Feminismus und der sozialen Gerechtigkeit weiss. Denn Vorurteile und freiheitsraubende Traditionen sind weit nicht so schlimm, wenn man bereit ist, sie kritisch zu prüfen und loszulassen. Jeder Mensch sollte stets Zweck und nicht bloß Mittel sein.

Faulheit

Ich halte mich oft für einen faulen Menschen. Das hängt damit zusammen, dass ich schlafen sehr mag, meine Ruhe schätze und Tätigkeiten, die mich nicht interessieren, nur mit hohem Energieaufwand und geringer Motivation bewältige. Das hängt sicher auch ein Stück weit damit zusammen, dass meine Mutter besonders, meine Eltern allgemein, Ehrgeiz als Tugend ansehen.
Wer mich kennt, weiss, ich beklage mich über konkret bestehende Verhältnisse nur in Ausnahmesituationen. Wenn ich im Dienst Nachtschichten von 12 Stunden durchfuhr, dann war dem so. Wenn beim Training bei der Feuerwehr das fünfte Mal in direkter Folge ein Löschangriff geübt wurde, dann sammle ich auch die letzten Kräfte wenn es sein muss. Und wenn ein mehrtägiger Dienst auf einem Festival ansteht, dann melde ich mich mit Vorliebe für alle Schichten und verlasse das Behandlungszelt nur für Verpflegung/sanitäre Notwendigkeiten oder auf Befehl meiner übergeordneten Führungskraft.
Woher also diese Diskrepanz? Ganz einfach: Wie so oft suche ich die einfachsten, universellsten Erklärungen für meine Sonderbarkeiten zuerst. Nach einem solchen Dienst ist meine Leistungsfähigkeit für Tage sehr gering. Noch heute ärgert mich das oft, da ich gewohnt bin, 100% zu geben und der Leistungsabfall diesem Bild widerspricht. Ich habe es über Tage hingekriegt, habe einmal ausgeschlafen, dann sollten – wie sagt man so schön? – die „Akkus“ wieder geladen sein. Sollten, vielleicht. Sind sie aber nicht. Denn das reicht oft nur, die Reserven aufzufüllen. Und dieses Problem habe ich bis heute noch. Ich laufe oft auf Reserveenergie, weil es mir enorm schwer fällt, das Bild des ständig 100% leistungsfähigen Iustin als real unmögliches Idealbild an die Wirklichkeit anzugleichen. Und die Wirklichkeit sieht eben anders aus. Oft vergleiche ich das Hirn anderer Menschen mit Kohlekraftwerken: Sobald man weniger Kohle (Input) hineinschaufelt, reduziert sich auch recht schnell die Belastung (Stress). Mein Hirn funktioniert wie ein Kernkraftwerk: Ich kann eine gewisse Zeit einem überkritischen Input standhalten. Etwa im Dienst, was gerade an unübersichtlichen Einsatzstellen mir verhilft, den Überblick im Vergleich mit anderen sehr schnell zu gewinnen und zu wahren, oder mir Vitalmesswerte ohne Notiz merken zu können. Um beim Vergleichsbild zu bleiben: Wenn ein Kohlekraftwerk überhitzt, wegen zu viel Kohle im Ofen, dann muss die Kohle reduziert werden. Wenn ein Kernkraftwerk überhitzt, weil die Brennstäbe zu weit eingefahren sind und die Steuerstäbe zu kurz eingefahren sind (Filterstörung), dann kann man durch Zufuhr von Wasser im Primärkühlkreislauf auch ohne Turbinenüberlastung noch bis zu einem gewissen Punkt die Kernschmelze verhindern. Doch braucht es sehr viel länger, einen 950°c heißen Reaktor wieder herunter zu fahren, als ein 500°c heißen Kraftwerkofen. Und genau diesem Phänomen begegne ich im Nachhinein solcher Dienste: Mein Hirn muss den Stress langfristig abbauen. Dazu kommt, dass meine Gefühle subjektiv langsamer arbeiten und verarbeitet werden, als bei anderen. Das hilft im Dienst auch, nicht nur, dass ich durch die klare Trennung Gefühl-Gedanke (bzw. Vernunft – Trieb) meine Gefühle im Einsatz gut herunterfahren kann, ich oft entwickle ich die Gefühle nicht im Einsatz selbst, sondern erst im Nachhinein. Als ich einmal reanimiert hatte, merkte ich das besonders heftig: Im Einsatz galt: Hirn ein, Gefühl aus. Erst danach habe ich weiche Knie bekommen und den Schock (es war meine erste und bislang zum Glück – für manche Patienten leider auch zum Pech – meine einzige Reanimation) Das Adrenalin hilft dabei – es sorgt dafür, dass sich meine Aufmerksamkeit ganz auf das Äußere Geschehen richtet. So kann ich Stress, etwa wegen einer durch Alarm zerstörten Tagesplanung, positiv umleiten. Doch dies alles hat eben jenen Preis, dass ich alles im Nachhinein abarbeiten und zur Ruhe kommen muss. Mein größter Fehler war lange Zeit, dies nur bis zur Rückgewinnung der Einsatz- bzw. Leistungsbereitschaft zu betreiben. Aber es gibt keinen Sanitäter oder Feuerwehrmann, der keine Bedürfnisse außerhalb seines Jobs hätte, kein Berufsfeuerwehrler könnte auf der Wache leben, im Gegenteil. Höchstens zwei 24-Stunden-Schichten pro Woche sind in der Regel das Maximum, das bedeutet, fünf Tage Erholung. Und in meinem Falle kommt noch die deutlich höhere Masse an Input dazu, den ich wegen der Filterlosigkeit bearbeiten muss. Daher bedarf es zu einer guten Erholung einer längeren Zeit, als einer durchschlafenen Nacht. Dies ist keine Faulheit, sondern ein ordentliches Self-Care zur Verhinderung von Burnout oder Meltdowns. Und wenn mir dabei hilft, auf der Couch zu liegen und nur Flugzeugfilmchen anzuschauen oder Wikipediaartikel dazu durchzulesen, dann hilft mir hier meine Spezialinteresse, wieder auf den Stand zu kommen. Übrigens nicht nur nach Diensten, sondern auch nach anstrengenden Tagen, das sind in erster Linie Tage mit viel zwischenmenschlichem Kontakt oder Tage, die nicht nach Plan liefen. Faulheit wäre die Ablehnung jeder möglichen Belastung von Vorherein aus reiner Bequemlichkeit.
Das bedeutet in der Zusammenfassung: Ich und mein Hirn sind auf kürzere Zeiten hochleistungsfähig, brauchen dementsprechend lange Regenerationszeiten danach, die ich nach eigenen Maßstäben ansetzen muss.

Lernen

Autismus ist unheilbar. Nicht nur lehnen viele Autisten eine Heilung trotz der Nachteile, die sie durch Autismus erfahren ablehnen, es gibt schlicht keine Heilungsmöglichkeit für Autismus. Daher ist das Ziel jeder Therapie in diesem Bereich das Erlernen von Fertigkeiten, um in dieser Welt gut zurecht zu finden. Manche Ansätze sind äußerst radikal, wie die ABA-Therapie, welche autistischen Kindern „normales“ verhalten, ich kann es beim besten Willen nicht anders ausdrücken, wie Hunden antrainiert und jede Individualität in Denken und Fühlen, damit auch persönliche Wünsche, Ideen und Bedürfnisse gänzlich ignoriert. Es gibt aber auch den Regelfall einer allgemeinen Verhaltenstherapie, die eben auf das Individuum zugeschnitten ist. Diese ist aus meiner Sicht zu bevorzugen, auch, da Rücksicht darauf genommen werden muss, dass Autisten anders lernen und dazu andere Voraussetzungen benötigen.
Viele Autisten haben Gefallen an Comics, Zeichentrickfilmen oder auch Filmen allgemein. Dieser Zug wird schon in Rain Man aufgenommen, wobei Rain Man die Darstellung eines Savants und bezüglich Autismus eher überzogen ist. Doch es gibt handfeste, logische Gründe, woher dieses Interesse kommt. Autisten sind, im Gegensatz zum gängigen Vorurteil, an ihrer Umgebung, und im Gegensatz zum ähnlichsten psychiatrischen Bild, der schizoiden Persönlichkeitsstörung, an anderen Menschen interessiert. Filme zeigen Ausschnitte, reduzierte Modelle menschlichen Verhaltens. Einige Elemente werden dabei ausgeschlossen, da Filmcharaktere niemals so vielschichtig sein können, wie echte Menschen. Zudem kann man Filme anhalten und vor- und zurück spulen. Das erleichtert das Beobachten, Lernen und das Nachahmen von Verhaltensmustern. Besonders Comics und Zeichentrickfilme sind dazu hilfreich, da sie beispielsweise Mimik meist überzogen darstellen. Man denke an die unsterblichen Werke von Goscinny und Uderzo, in denen Asterix‘ Gefühle nicht nur durch seine Mimik und Körperhaltung ausgedrückt werden, sondern sogar durch die Federn seines Helms: Je besser es ihm geht, desto aufrechter die Federn.
Dies zeigt die Art des Lernens bei Autisten deutlich: strukturiert, systematisch, wie das Anlegen eines Lexikons. Ich merke dies auch selbst sehr oft: Ich lerne von Handouts in Stichpunkten, frei von Floskeln und unnötigen Umschreibungen, sehr viel mehr in wesentlich geringerer Zeit, als von Vorträgen oder ausformulierten Texten. Kommunikative Fähigkeiten, wie neue Gesichtsausdrücke, lerne ich durch aktives lernen, durch das Beobachten und Verknüpfen mit Situationen. Das ist vielleicht der größte Unterschied zwischen dem Lernstil meiner Wenigkeit und nichtautistischen Menschen: Ich lerne und wende Mimik Situativ, nicht emotional an. Ich beobachte zum Beispiel oft, dass Menschen ihre Augenbrauen zusammen ziehen, so dass senkrechte Falten entstehen, wenn sie nachdenken oder etwas beobachten. So würde ich dies interpretieren und im Rahmen meines Masking-Programmes anwenden und vorspielen. Ob dieser Gesichtsausdruck jedoch auch etwas mit Gefühlen zu tun hat, weiss ich nicht. Der schwedische Mentalist Henrik Fexeus beschreibt als eine der sieben Grundemotionen Ekel. Für mich ist Ekel eine körperliche Reaktion, kein Gefühl. Aber er listete diese Emotionen systematisch und erklärte sie anhand praktischer Zeichen, was mir im Verständnis anderer Menschen wesentlich weiterhalf.
Wir alle lernen, jeden Tag. Auch wenn wir es nicht merken. Und ich bin ein Mensch, für den das Lernen ganz besonders wichtig ist, ist es doch mein Ziel, mehr zu sein, als ich bin, wie es Star Trek so schön ausdrückt.

Die Sucherin

Dieser Bericht wird nur einen geringen Umfang haben. Grund dafür ist die Tatsache, dass ich die Sucherin in den letzten Jahren kaum gesehen und sie daher aus den Augen verloren habe. Sie stellt dennoch eine interessante Persönlichkeit in meinem Leben dar, weil sie die erste Autistin (auch Asperger-Syndrom) ist, die ich kennen gelernt habe.
Im Alter von 15 Jahren trat ich in zwei Jugendorganisationen ein. In einer davon traf ich auf ein Mädchen, welches mir durch eine ruhige und ungewöhnlich erwachsen wirkende Art auffiel. Wir kamen ins Gespräch und redeten eine Zeit lang immer wieder regelmäßig auf dem Heimweg miteinander. Dieses Mädchen war nicht die Sucherin, um die es hier eigentlich geht. Die Sucherin war ein anderes Mädchen, zu welchem ich eine eher gewöhnlich intensive Konversation pflegte. Sie ich bemerkte sie als ein Mensch, den ich nicht ganz einordnen konnte, da sie einerseits von kindlicher Fröhlichkeit war, aber bei genauerer Betrachtung ihre Mimik eigentümlich wirkte, als ob sie zwei Gesichter hätte. Nota bene wusste sie zu jenem Zeitpunkt auch nicht, dass sie Autistin war. Dies fand sie erst später heraus, als wir uns aus den Augen verloren. Dass sie Autistin ist, erfuhr ich in einer Randnotiz einer gemeinsamen Bekannten zur Zeit meiner eigenen Diagnostik. In der Zeit unseres gemeinsamen Umgangs miteinander, erschien sie mir wie eine Person, welche innerlich fragmentiert ist, die der ständigen Mühe ausgesetzt ist, sich zurecht zu finden. Nicht im geographischen Sinne, sondern im organisatorischen. Ein Mensch, der zwischen dem Optimum und der Realität, der Idee und der Wirklichkeit, dem echten, inneren, und der Maske für die Umgebung, pendelt, und eine goldenes Maß sucht, diese tägliche Anstrengung und inneren Konflikt erträglicher zu machen. Diese Gemeinsamkeit, nur unter Anstrengung Wege zu finden, um sich im Leben zurecht zu finden, hatte ich als Gemeinsamkeit erkannt, doch mehr nicht, betrieben wir beide aus großer Unwissenheit doch Masking (Anpassung durch Simulation) gegenüber uns und unserer Umgebung. Doch ihr Humor gefiel mir. Der inzwischen bei mir geflügelte Spruch „Schreiend im Kreis rennen“ als Vorschlag, wenn eine Problemlösung in eine Sackgasse gerät, stammt ursprünglich von ihr.
Ich wünsche ihr, dass sie gut mit sich klar kommt und ihren Lebensweg individuell nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten kann.

Ursachen

Um über die Ursache des Autismus, präziser: den Stand der Forschung in diesem Feld, berichten zu können, muss ich ganz kurz ein bisschen grundlegende Forschungstheorie vermitteln. Es gibt in der Forschung im Prinzip nämlich drei Theorien von Wahrheiten in zwei Formen.
Die erste Form ist die substanzialistische Wahrheit. Diese ist hier nicht weiter von Belang. Die zweite Form ist die semantische Wahrheit, die drei Theorien des Wahren beinhaltet. Die erste Theorie ist die Korrespondenztheorie. Nach ihr ist eine Aussage wahr, wenn sie mit den messbaren Indikatoren übereinstimmt. So müsste die Aussage, dass eine Organisation eine Terrororganisation ist, wenn sie Kapitalverbrechen begeht, wahr sein, wenn man ihr ein solches nachweisen könnte. Probleme bestehen bei der Zuweisung des so genannten „empirischen Referenten“, also der unabhängigen Variablen, in diesem Fall das Kapitalverbrechen. Man könnte kritisieren, dass nicht spezifiziert ist, ob das entsprechende Kapitalverbrechen politisch motiviert ist. Die zweite Theorie ist die Kohärenztheorie. Nach ihr gilt eine Aussage als wahr, wenn sie nicht im Widerspruch zu bisherigen Theorien steht. Das Problem hier liegt an der Anfälligkeit für Folgefehler und ihrer weiten Definition. Als drittes besagt die Konsenstheorie, eine Aussage sei wahr, wenn sie allgemein anerkannt wird. Diese Theorie kommt oft dann zum Zug, wenn eine empirische Prüfung nur schwer möglich ist, oder wenn sie als Grundlage einer aufbauenden Theorie dient, die geprüft werden soll. Das klingt dann etwa so: Ich nehme an, dass eine bestimmte Partei extremistisch sei, da es fachlich nur wenig zweifel daran gibt und versuche nun die These zu belegen, dass darauf aufbauend ein Verbot der Partei zu einer Neugründung in einem neuen Gewand als wahrscheinlich gilt, indem ich diesen Fall mit einem anderen kausalanalytisch vergleiche, in dem genau dies geschah.
Diese, zugegebenermaßen sehr trockene Theorie, kann zu merken dienlich sein, wenn wir nun zum eigentlichen Thema schreiten, nämlich zur Frage, welche Ursache gemäß der Forschung Autismus auslöst. Und hier muss ich leider eine Enttäuschung riskieren: Die Ursache von Autismus ist nicht eindeutig gesichert.
Doch es gibt verschiedene Thesen und verschiedene Studien zu diesem Thema. Im folgenden Hauptteil möchte ich die wichtigsten Theorien vorstellen.
Die erste Theorie zur Ursache von Autismus stammt von seinem Erstbeschreiber, Leo Kanner. Er erhob die über zwei Jahrzehnte anerkannte These der „Kühlschrankmutter“. Die scheinbare Emotionslosigkeit und fehlender Fremdbezug sei Folge emotionaler Kälte in der Kindeserziehung. Widerlegt wurde diese Theorie, nachdem sie viele Familien mit autistischen Kindern zerstört hatte, logishc-statistisch: Autistische Kinder hatten bisweilen nicht-autistische Geschwister, die ihre Lebenssituation teilten.
Genauer ins Detail ging eine quantitative Studie im Jahr 2015. Auch sie wurde statistisch ausgewertet und testete unter rund 6.400 Zwillingen genetische Zusammenhänge in Sachen Autismus. Das Ergebnis zeigte, dass bei eineiigen Zwillingen in 98% der Fälle von Autismus beide Individuen betroffen waren. Bei zweieiigen Zwillingen immerhin noch bei 53% – 67%, je nach angewandtem Test (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4996332/). In Parenthese: Wie ich schon mehrfach in anderen Berichten bemerkte, sind auch psychiatrische Tests für Autisten nur bedingt eindeutig, da ihre Antworten interpretatorisch-subjektiv sind, und sie die Menschen absolut einheitlich betrachten, nicht individuell. Es gibt aber keinen DIN-Autisten. Die erwähnte Studie zeigte jedoch, dass Autismus bei genetischer Verwandschaft häufiger anzutreffen ist und legt eine entsprechende Ursache nahe. Bei dieser Studie wurden, gemäß dem amerikanischen Standard, inzwischen Autismusspektrumstörungen, und nicht mehr Asperger-Syndrom, Frühkindlicher Autismus, et cetera zu diagnostizieren, jegliche anerkannte Form des Autismus eingeschlossen. Diese Studie wurde von Fachartikeln und in Fachzeitschriften oft zitiert.
Seither wurde oft nach dem „Autismusgen“ gesucht. Gefunden wurde es nicht. Zwar wurden Auffälligkeiten in den Genstrukturen von Autisten gefunden, etwa im elften Chromosom (https://www.youtube.com/watch?v=V74o_NQa2pk), aber eine kausale Verbindung wurde nicht zweifelsfrei gemessen. Auch Dockcheck, eines der bekanntesten Online-Nachschlagewerke für Mediziner, bringt das siebte Chromosom mit Autismus in Verbindung (https://flexikon.doccheck.com/de/Chromosom_7), jedoch ebenfalls mit dem Verweis der unklaren Ursache (https://flexikon.doccheck.com/de/Autismus). Eine weitere Studie beschreibt das Problem dabei: Einzelne Gene als gesichert mutiert zu erkennen, ist wegen der Heterogenität von Autisten schwierig. Jeder Autist ist verschieden, daher sind es unsere Genstrukturen auch. 1/25 der Gene wurde bei Autisten als mutiert beobachtet. Andererseits bleiben die oben genannten 2% genetisch identischer Zwillinge, von denen nur einer autistisch ist. Ein weiteres Problem ist die defizitäre Diagnostik (siehe oben), die eine eindeutige Benennung von Autisten zur Rekrutierung einer geeigneten Erhebungsgesamtheit (Individuen für die Studie) erschwert (https://www.nature.com/articles/4001896#Sec23).
Weitere Forschungen im biologischen Bereich vermuten eine Hirn- oder Hirnfunktionsstörung als Ursache, etwa durch Sauerstoffmangel bei der Geburt (http://www.autismushamburg.de/ursachen.html). Bei 60% der Autisten lägen Hinweise dazu vor. Funfact: Auch ich erlitt bei meiner Geburt einen Sauerstoffmangel und eine Lungenentzündung, welche mir im Alter von 30 Minuten meine erste Sondersignalfahrt in einem Rettungswagen einbrachte. Das Manko dieser Studie: Es wurden kaum kausal auswertbare biologische Veränderungen an Autisten festgestellt, welche Stoffwechsel oder neurologische Anomalien als Ursache für Autismus qualifizieren.
So viel zu den aktuell führenden Theorien. Abgesehen davon gibt es noch eine ganze Reihe kleiner und großer Halbwahrheiten, um nicht zu sagen: verschwörungstheoretische Hanebücheneien, welche sich manchmal mehr, manchmal weniger, in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben.
Da hätten wir die Mutter der autistischen Verschwörungstheorien: Die Impftheorie.
Im Jahr 2016 erschien der Film „Vaxxed“, der die Theorie bekannt machte, die so genannte MMR-Impfung würde Autismus auslösen. Ohne den Film zu kennen, kann reine Logik diese These widerlegen: Autismus wurde zwischen 1911 (Bleuler) und 1943 (Asperger) entdeckt. Der MMR-Impfstoff wurde in den 1960ern eingeführt. Auch die Empirie konnte spätestens 2018 in einer quantitativen Kohortenstudie in Dänemark widerlegt werden: MMR-Impfungen erhöhen keine autistischen Fallzahlen (https://www.acpjournals.org/doi/10.7326/M18-2101).
Zu den noch haarsträubenderen Theorien zählt jene der PETA. Diese behauptet, Autismus würde sich durch den Verzicht auf Casein „verbessern“ – im Umkehrschluss also, Casein „verschlimmere“ Autismus (https://www.peta.org/features/got-autism-learn-link-dairy-products-disease/). Wie oft bei dieser Art von Theorien wird in einem einzigen Faktor die Ursache für gefühlt jeden tatsächlichen scheinbaren oder tatsächlichen Übels zugeschoben. Hier wird Autismus auf eine Stufe mit Krebs gesetzt. Auf mich als Autisten wirkt das ungefähr so, wie wenn ich Homosexualität mit Hoden- oder Gebärmutterkrebt gleichsetzen würde. Ich und meine Art sind keine Krankheit. Und wenn man die angeführte Hauptquelle der PETA untersucht und vergleicht, dann erscheint sie beinahe wie ein wissenschaftlicher Witz: Während oben genannte Studien tausende Individuen untersucht, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen, untersuchte die Hauptquelle der PETA gerade einmal 20 Individuen. Die zweite Studie konnte ich nicht finden, doch wage ich zu zweifeln, dass sie von höherer Qualität sein sollte.
Die Theorien in sozialen Netzwerken setzen dem Ganzen die Krone auf. Die Theorien dort reichen vom Standpunkt, Autismus sei eine Folge von Vitaminmangel, bis zur Idee, er sei die Folge von schlechter Erziehung. Es sind Thesen, die teilweise auf so absurden Fundamenten aufgebaut sind, dass sie nicht einmal Sinn ergeben. Aber was erwartet man auf Instagram und Co.
Abschließend kann man zusammenfassen, dass Autismus im wesentlichen genetisch bedingt ist, und sekundär Umweltfaktoren wirken. Und damit kann es auch keine „Heilung“ vom Autismus geben. Wenn Autismus nämlich eine genetische, also von Geburt an vorhandene Angelegenheit ist, dann entwickelt sich die ganze Persönlichkeit eines Autisten um Autismus herum, sie ist nicht vom Autismus lösbar, ohne zerstört oder irreversibel und allumfassend verformt zu werden.

Behinderung

Juristisch betrachtet zählt man als Autist als behindert. Das bedeutet, dass man ausgleichsrelevante Nachteile erfährt, und hat nichts mit der Leistungsfähigkeit und schon gar nichts mit möglichen Vorteilen des Autismus zu tun. Auch mit der Schwere des Autismus nicht, sondern allein mit dem Maß der sozialen Einschränkungen. Soweit ich es verstanden habe, kann man große sensorische Empfindlichkeiten aus dem Autismus heraus haben, und einen geringen GdB, wenn man ein gutes Masking (eine Anpassung durch Überspielen autistischer Eigenschaften) beherrscht. Anders herum kann man auch trotz leichter Form, oder nur einiger autistischen Zügen, einen hohen GdB haben, wenn das Sozialleben massiv eingeschränkt ist. So zählt man vor dem Gesetz auch als behindert bis zu Grad 30, wenn man unter schwerer Akne leidet, doch erhält man für den Verlust eines kompletten Daumens einen Grad von nur 25, zumindest gemäß Katalog. Entscheidungen sind jedoch Einzelfallsabhängig. Überhaupt ist es sehr interessant, sich das entsprechende Gesetz durchzulesen, und zu erfahren, wofür man alles Behinderungen anerkennen lassen kann. Der Grad der Behinderung wird in der Regel 10er-Schritten bis 100 bemessen, wobei man ab 50 als schwerbehindert gilt, ab einem Grad von 30 ist man unter Umständen Schwerbehinderten gleichgestellt. Autismus und Asperger-Syndrom werden, aus meiner Sicht nur folgerichtig, gleichsam behandelt. Theoretisch ist eine Einstufung von 10 bis 100 möglich, abhängig von der Stärke der sozialen Beeinträchtigung.
Aufgrund bürokratischer Hürden und Schwierigkeiten im Studium macht es für mich Sinn, einen entsprechenden Antrag auf Anerkennung des GdB zu stellen. Ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten würde der mir zustehende GdB 10 oder 20 betragen. Doch frei von diesen Schwierigkeiten bin ich nicht. Damit wird mein GdB mindestens bei 30 liegen (was, zum Vergleich, auch dem Wert für chronische Depressionen entspricht). 80 bis 100 schließe ich aber auch aus, da dies mit schweren Einschränkungen einhergehen würde, ich jedoch zu Team- und Gruppenarbeiten, sowie zum Erhalt einiger Kontakte und Freundschaften, sowie zu autonomem Leben in der Lage bin. Persönlich rechne ich mit einem GdB im unteren möglichen Bereich. Sollten jedoch wider erwarten meine Schwierigkeiten ohne Masking betrachtet werden, könnte sich diese Schätzung als zu niedrig erweisen.
Der genaue Grad ist für mich jedoch effektiv nur sekundär von Interesse, da die Art von Nachteilsausgleich, auf die ich abziele (eine Verschiebung eines Leistungsnachweises um ein Paar Monate) nicht von dem Grad selbst abhängt, und ich jeden Wert von und über 20 verwenden kann, um die Verschiebung zu rechtfertigen. Das heisst, selbst, wenn ich in den Bereich der Schwerbehinderung fallen würde, würde ich kaum eine zusätzliche Anpassung meines Lebens mit Hilfe des GdB anstreben, da ich meine Probleme und Herausforderungen aus eigener Hand und mit eigenen Wegen und Ideen lösen möchte, wo immer es geht. Schließlich ist es Teil meines Lebens.

Post scriptum: Im Rahmen der Besprechung dieses Vorhabens schlug meine Psychologin vor, eine genauere psychiatrische Bewertung im hiesigen Autismuszentrum als Neuevaluation der fehlgeschlagenen ersten Diagnose. Offensichtlich hält auch sie die Auswertungen des ersten psychiatrischen Testverfahrens, welches trotz grenzwertiger Ergebnisse negativ konstatiert wurde (siehe unter anderem: „Diagnostik 3“), für falsch. Wohl kaum hätte sie sonst ihrem eigenen „Zunftkollegen“ widersprochen, und mich diagnostiziert. Eine psychotherapeutische Diagnose hat genauso Gültigkeit wie eine psychiatrische, doch ist die psychiatrische Diagnose aufgrund der standartisierten Form zwar nicht unbedingt stets dem individuellen Autisten gerecht wird, besonders dann, wenn er sich Jahrelang angepasst hat, doch dem Amt. Und genau darum werde ich, wenn überhaupt, dieses Vorhaben nur mit untergeordneter Priorität voran treiben. Ich habe alle Informationen, sie ich brauche. Ich weiss, was ich ich bin und daher nun auch, wer ich bin, und es ist mir von fachkundiger Seite bestätigt worden. Solange es keine formale Notwendigkeit zu weiterführenden Tests gibt, gibt es auch keine Not zur Eile. Mein Autismus läuft mir ja nicht weg.

Bewegungen

Diesen Bericht verfasse ich rund eine Woche nach dem Tod von George Floyd, der unter der Hand eines minneapolitanischen Polizisten den Tod fand. Dieser Vorfall löste weltweit Proteste gegen Rassismus aus. Ich persönlich favorisiere die Idee, dass jeder Mensch den gleichen, höchsten Wert und seine Würde das höchste Gut überhaupt ist, da sie die kategorische Grundlage für seine Rechte und Pflichten auf Achtung des Lebens, Respekt, Freiheit, Individualität und Souveränität bildet. Daher möchte ich auch an dieser öffentlichen Stelle meine Hochachtung für jeden Einzelnen ausdrücken, der friedlich gegen Rassismus demonstriert und angemessen für die Menschenrechte eintritt. Es wird Zeit, dass wir uns als Menschen mit Anstand und Gewissen begegnen, sowohl uns selbst, als auch zweiten und dritten Personen.
Was mich enttäuscht ist der geringe Fokus des Protests. Wenn man sich die Welt anschaut, dann kommen die Bewegungen voran, die es schaffen, laut zu sein. Die aktuellen Proteste sind laut, sie werden auf der ganzen Welt gehört. Die Friedensbewegung der 80er war laut, genauso die 68er Bewegung, um zwei weitere politische Bewegungen als Beispiele zu führen. Und auch der Begriff des Feminismus ist inzwischen soweit bekannt, dass man ihn immer seltener (dennoch noch oft genug) erklären muss.
Hier möchte ich einen kurzen Exkurs eröffnen. Ich persönlich fühle mich der liberal-moderaten Neurodiversitätsbewegung verpflichtet. Diese vertritt die These, dass andere Formen der Mentalität nicht zwangsläufig Krankheiten oder Störungen darstellen müssen, wenn die damit einhergehenden Probleme aus der Interaktion resultieren. Die Filterstörung etwa, mit welcher ich lebe, wird erst dann zum Problem, wenn zu viele Reize von außen auf mich eindringen, ist also ein Interaktives Problem. Lediglich, weil ich mit dieser Störung einer absoluten Minderheit angehöre, gelte ich damit als Sonderling, und als benachteiligt. Die Neurodiversitätsbewegung setzt sich dafür ein, dass jede Form der Wahrnehmung akzeptiert und respektiert wird, solange die Person keinen intrinsischen Leidensdruck verspürt. Eine Person mit klassischer Depression etwa kann einen Leidensdruck aus ihrer eigenen Gefühlsleere benennen – sie leidet, ohne dass eine Interaktion dieses Leid auslöst. Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung leiden meist an dem Nichtempfinden der in ihrer genetischen Natur als möglich gegebenen, vielleicht früher einmal gespürten doch verlorenen Gefühle. Autisten leiden selten unter sich selbst oder direkt einem Aspekt ihrer selbst. Damit sollte Autismus anders betrachtet werden, als eine Persönlichkeitsstörung. Weitere Diagnosen, welche oft in der Neurodiversitätsbewegung zu finden sind, sind ADS und ADHS. In einem der folgenden Berichte über die Ursache von Autismus werde ich auch auf die Verwandschaft desselben zu ADS/ADHS eingehen. Da Homosexualität und Transgender ebenfalls psychiatrische Diagnosen waren (in Deutschland letzteres bis 2019), gibt es eine Nähe zwischen der LGBTQ+ -Bewegung und der Neurodiversitätsbewegung.
Doch die LGBTQ+-Bewegung ist der Neurodiversitätsbewegung allein zahlenmäßig weit überlegen: In Deutschland schließt diese Gruppe ca. 7,4% der Bevölkerung ein (https://www.queer.de/detail.php?article_id=27318), doch nur 0,6% – 1% Autisten, wobei diese Zahl die geschätzte Dunkelziffer mit einschließt, also auch Menschen, die sich ihres Autismus nicht bewusst sind (https://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/umweltmedizin/autismusautismus-spektrum-stoerungen#welche-risikofaktoren-sind-bekannt). Eine solche Bewegung wie die Neurodiversitätsbewegung ist daher kaum in der Lage, eine derartige Lautstärke und damit Präsenz zu erzielen, wie die LGBTQ+-Bewegung oder gar der schon allein historisch umfangreichen Antirassismusbewegung oder dem Feminismus. Weiterhin hat diese Bewegung mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie von Menschen geführt wird, die grundlegend anders funktionieren, als die Normalität beschreibt. Dass Frauen normale Menschen sind, ist eine offensichtliche, und daher indiskutable, These. LGBTQ+ beschäftigt sich einerseits mit der sexuellen Identifikation der Menschen, namentlich entsprechender Minoritäten, in denen Außenstehende meines Erachtens nach ohnehin keine Legitimation der ungebetenen Mitsprache haben. Andererseits beschäftigt es sich mit der sexuellen Orientierung, also einem Teilbereich der Wahrnehmung. Und auch die Bewegung gegen Rassismus tut im theoretischen Kern nichts anderes, als darauf hinzuweisen, dass der Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen einzig und allein dieser ist: Die Anatomie, sonst nichts. Und insbesondere nichts, was eine Herabwertung legitimieren oder eine Dominanz rechtfertigen würde. Die Neurodiversitätsbewegung jedoch versucht, den Anspruch auf Akzeptanz auch für Menschen wie Autisten durchzusetzen, die eine gänzlich differente Psyche, Wahrnehmung, Selbstsicht, Denkart, Gefühl und Lebensstil ihr Eigen nennen. Hier ein Verständnis aufzubauen ist schwierig.
Das zeigt sich in der Praxis leider sehr gut. In der Woche des Todes wurde Alejandro Ripley nach einem ersten, missglücktem Versuch kurz zuvor, von seiner Mutter in einem Kanal ertränkt. Laut Miamy Herald sagte sie aus, ihr neunjähriger autistischer Sohn sei nun an einem besseren Ort. Sie wurde des Mordes ersten Grades angeklagt, doch eine Empörung, auch nur auf nationaler Ebene, wie der Autismus eines neunjährigen Kindes als Versuch der Rechtfertigung für Mord dienen könne, dass dies nichts sei als Grausamkeit, blieb aus. Wenn man, wie ich, in sozialen Netzwerken auch private Reaktionen zu Vorfällen dieser Art liest, dann findet man nicht selten Beileidsbekundungen – mit den Mördern. Die Eltern seien überfordert und Verzweifelt gewesen und hätten ihren Sohn erlösen wollen. Das macht mich fassungslos, denn ich dachte, wir hätten die Zeit der menschlichen Euthanasie nach T4 abgelegt. Nebenbei bemerkt entstand die Diagnose des „Asperger-Syndroms“ aus der Unterteilung von Autisten in „lebenswertes“ und „lebensunwertes Leben“ von Hans Asperger. Lebensunwerte Autisten wurden vergast. Da nach neuerem Verständnis, was unter anderem in den USA dafür sorgte, dass die Autismusdiagnosen in „autism spectrum disorder“ zusammengefasst werden, sind jedoch Asperger-Syndrom und beispielsweise Frühkindlicher Autismus lediglich unterschiedliche Erscheinungsformen desselben Phänomens, abhängig von der Fähigkeit zu Kompensation und Anpassung des Individuums, nicht von der Schwere des Autismus. Daher würde ich nicht soweit gehen, die These aufzustellen, es seien keine Asperger-Autisten nach heutigem Verständnis nach Überweisungen von Hans Asperger vergast worden.
Doch es muss nicht immer Mord sein. Das Judge Rotenberg Center in Massechusets (USA) hat über Jahrzehnte hinweg bis in dieses Jahr (2020) hinein Autisten mit Elektroschocks zu normalem Verhalten zu erziehen versucht. Selbst Proteste seitens des Folterbeauftragten der UN scheiterten. Ich habe ein Video gesehen, welches bereits 2014 von CNN erwähnt wurde, in dem erkennbar ist, wie ein minderjähriger, sprachfähiger (nicht mutistische) Autist unter Flehen, von ihrem Vorhaben abzulassen, von Angestellten des JRC auf eine Pritsche geschnallt wurde, auf der sie ihn mit Stromstößen quälten, unter denen er vor Schmerzen brüllte.
Zuletzt möchte ich eine bestimmte Therapie in die Kritik nehmen, welche in Deutschland legal und weit verbreitet ist. Es handelt sich um die „Applied Behavior Analysis (ABA)“. Diese verfolgt den ebenfalls den Zweck, Autisten normales Verhalten anzuerziehen. Konkret werden Autisten zu normalen Verhaltensweisen, etwa Lächeln durch Vorspielen oder Umarmen durch Applikation, angeleitet. Zeigen sie dieses Verhalten, werden sie belohnt. Wenn nicht, werden sie bestraft. Dies schließt auch sensorische Effekte mit ein. Mir liegen Aussagen vor, dass mancherorts Autisten mit Essen gefüttert werden, welches wegen ihrer Hochsensibilität qualvoll für sie ist. Erbrechen sie es, wird dies als Vermeidungs- oder Fluchtverhalten gewertet, welches es zu neutralisieren gelte- und sie werden gezwungen, das Erbrochene erneut zu essen. Bekommen sie ob der Überreizung einen Meltdown (siehe gleichnamige Menüseite), so wird dieser konsequent missachtet. Helfende Instrumente, etwa Kopfhörer, werden ihnen vorenthalten, um den Meltdown, der Logik von Wutanfällen folgend, nicht zu „belohnen“. Ich wiederhole: Diese Therapie ist in Deutschland legal, und wird aktuell von offiziellen Stellen, etwa dem Autismuszentrum Bremen, als möglichst oft, mindestens 40 Stunden pro Woche anzuwenden (http://www.ifa-bremen.de/bookletpdffinal.pdf). Befürworter der ABA wenden ein, die Skills der Therapierten würden sich nachweislich verbessern. Kritiker (wie ich) wenden ein, dass hier Autisten, in erster Linie Kinder, wie Hunde trainiert werden, ohne Achtung derer individuellen Gefühle und Bedürfnisse, einzig und allein mit dem Ziel der Normalisierung.
Dies sind Beispiele für Systematische Formen der Missachtung von autistischen Menschen. Von den Einzelfällen möchte ich gar nicht erst beginnen. Was ich möchte, ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Die Proteste gegen Rassismus schärfen die öffentliche Wahrnehmung von Unmenschlichkeit und Ausgrenzung. Ohne diese Form davon aus den Augen zu verlieren, müssen wir uns jeder Form der Ausgrenzung stellen, egal wie klein und leise der Protest dagegen heute ist. Ja, wir können uns nicht auf Basis jedes einzelnen Vorfalls organisieren, das wäre utopisch. Doch wir können uns bewusst machen, dass gesellschaftliche Akzeptanz grundsätzlich jedem Menschen a priori entgegen gebracht werden muss. Wenn wir den Anspruch als moralische Menschen erheben wollen, dann dürfen wir mit unserer Moral nicht exklusiv umgehen. Wir müssen langfristig Rassismus mit Humanismus vertauschen, Ableismus mit Holismus, Antifeminismus mit Egalitarismus. Denn am Ende sind wir alle Menschen.

Beziehungen

Ich habe schon einmal einen Bericht zum Thema Liebe (siehe gleichnamigen Bericht) verfasst, und bin darin auch auf Liebesbeziehungen und deren Aufbau eingegangen. In diesem Bericht möchte ich etwas genereller zwischenmenschliche Beziehungen aus Sicht eines Autisten behandeln. Wenn ich hier also von „Beziehungen“ schreibe, dann meine ich damit jedes mögliche zwischenmenschliche Verhältnis, insbesondere jene positiver Natur. Eine Anmerkung vorweg: Eines der wesentlichsten Merkmale von Autisten in Abgrenzung zu der sehr ähnlichen Schizoiden Persönlichkeitsakzentuierung/-störung ist die Tatsache, dass Autisten in der Regel Kontakt zu anderen Menschen befürworten, während Menschen mit SPS dem Zwischenmenschlichen eher zurückhaltend gegenüber stehen, sich lieber auf sich selbst und ihren Verstand verlassen, und Gefühle, welche sie in die Nähe anderer Menschen treiben, so sie sie wahrnehmen, vermeiden. Autisten genießen zwischenmenschlichen Kontakt schon eher, stehen dabei aber vor dem Problem der Interaktion und Kommunikation: Auf beiden Seiten gibt es Regeln, die die jeweils andere Seite nur begrenzt erahnen oder verstehen kann. Das macht den Beziehungsaufbau schwieriger, als bei anderen Menschen.
Dabei sind Beziehungen eine hochinteressante Angelegenheit. Besonders aus autistischer Sicht wirkt es manchmal wie Hexerei, wenn man beobachtet, wie Menschen sich einander annähern, innerhalb von Sekunden „einen Draht zueinander finden“, Rapport herstellen (also Verhaltensweisen, Tonlagen, Gestik, etc. des Gegenüber kopieren) und bisweilen nach wenigen Minuten eine Beziehung hergestellt haben. Diese Wesen, mit ihren bisweilen unendlich wirkenden Zeilen sozialer Meta-Codes, die nur zu merken mir schon viel Mühe abverlangt, unberechenbar und oft unvorhersehbar in ihrem Handeln – diese Wesen finden zusammen innerhalb von Momenten. Wie geht das? Das ist die Frage, die mir dann jedes Mal im Hirn hängt.
Beziehungen aufbauen ist für mich eine Heidenarbeit. Mal abgesehen von dem winzigen Prozentsatz der Menschen, denen ich sofort anmerke, dass sie Elemente an sich haben, die mich faszinieren, ist schon der erste Punkt für mich eine Herausforderung: Die Wahl der Kontaktperson. Klar, manchmal wird man auch an andere Menschen herangewürfelt, und ab und zu kommen auch Menschen auf mich zu. Ein kurioses Erlebnis dieser Art hatte ich vor einigen Monaten in der Mensa meiner Universität: Ich saß für mich allein, wenn man das in der vollen Mensa so nennen konnte, an meinem Tisch, und hörte, wie immer, einen politischen Showbeitrag an, als eine Studentin eines gemeinsamen Kurses sich plötzlich mir gegenüber setzte. Sie saß da und schaute mich an. Nach einigen Momenten merkte ich, dass ihre Aufmerksamkeit meiner Person galt, sie also scheinbar etwas von mir wollte. Dem war dann auch so, und wir kamen ins Gespräch über optimale Präsentationsstile. Doch wenn man weniger Glück hat, muss man selbst unter vielen Leuten Gesprächspartner suchen. Da hilft meist nur ausprobieren. Sich in einer Unterhaltung dazustellen und schauen, mit wem man am besten ins Gespräch kommt.
Wenn die Beziehung nun persönlicher Natur sein soll, dann stehe ich vor einem problematischen Detail, welches für andere Menschen vielleicht völlig banal klingt: Ich kenne mein Gegenüber nicht. Während andere mit irgendwelchen mir unbekannten Tricks ein Gefühl für ihr Gegenüber entwickeln, bleibt mir dieses ob der anderen Art des mentalen processing verwehrt. Also verwende ich die „manuelle“ Art. Diese gestaltet sich so, dass ich zum ersten Kennenlernen eine Reihe von Fragen stelle, die mir einen ersten Überblick über die Person geben. Zum Beispiel, was die Person beruflich macht, wie sie dazu kam, was ihre allgemeinen Interessen sind und welche Musik sie gerne hört. Letzteres ist für mich besonders aufschlussreich. Bin ich doch nicht in der Lage, die Gefühle anderer Menschen nachzufühlen, kann ich dennoch bei gleichen Stimuli Gefühle meiner Art entwickeln. Diese Fähigkeit nutze ich hier aus, um zu erfahren, ob die Person beispielsweise eher positive oder negative Reize bevorzugt, und so ein kleines bisschen ihre Persönlichkeit nachzeichnen zu können. Je besser ich eine Person kennen lerne, desto besser kann ich sie einschätzen. Ich erfahre, bei welchen Themen ich eine Verständigung bemerke und wo nicht. Dies hilft mir in zweierlei Hinsicht. Zum einen kann ich so erkennen, wie viel Vertrauen ich in eine Person setzen kann. Vertrauen bildet geschätzt 70% einer Beziehung für mich. Ich muss einen Freund oder eine Freundin nicht mit astronomischer Präzision „lesen“ oder vorhersagen können, aber wissen, ob diese Person nach meinem Verständnis gut auf Situationen reagiert, welche ihnen in der Beziehung zu mir begegnen könnten, oder ob ich entsprechende Situationen vermeiden sollte. Die restlichen 30% sind Zuneigung. Das heisst, ich kann einen Menschen sehr sympathisch finden, doch zu wenig Vertrauen aufbauen, für eine intimere Beziehung (was bei einem Kontakt von mir aktuell der Fall ist), und umgekehrt, einem Menschen ohne weiter nachdenken zu müssen mein Leben anvertrauen, aber die Sympathie reicht eben ganz knapp nicht aus, um mich von der Vorstellung einer Liebesbeziehung zu überzeugen (Gruß an die Timekeeperin an dieser Stelle). Auch sind bei mir diese Skalenwerte nicht in Stein gemeißelt, doch neigen sie bei längerem, gleichbleibendem Kontakt zur Konstanz. Wenn diese Konstanz erreicht wird, dann muss ich, um mit einem Menschen umgehen zu können, als nächstes eine passende Kategorie finden, um diesen Menschen in meinem Verstand einzuordnen. Ein Kontakt ohne Kategorie, ist für mich, wie ein Fußballspiel, mit mehreren Mannschaften, und einem einzelnen Spieler, der ein ganz anderes Trikot als die Mannschaften hat. Ich kann so mit diesem Kontakt nicht viel anfangen, die Kommunikation wird erschwert und eine Bindung ist mir unmöglich. Also lege ich die Kontakte, passend nach oben genannten Werten und weiteren Formalia (Gegenseitiger Nutzen immaterieller Art aus der Beziehung, optimale Synchronisation beidseitiger Interessen, etc.) in einer Kategorie ab, wie „Freunde“, „enge Freunde“ „Kollegen“, „Kameraden“, „Liebespartnerin“ (so bestehend), „Familie“, „Bekannte“ und der speziellen, einmalig besetzten Kategorie der „besten Freundschaft“ für die bereits erwähnte Timekeeperin ab. Diese Kategorien erleichtern auch die Form der Kommunikation und einen vordefinierten Zugang zu privaten Informationen. Menschen, welche ich zu meinen engen Freunden zähle, haben stets einen Zugang zu privaten Informationen, Menschen, welche ich zu den Bekannten zähle, haben diesen Zugang nicht.Was also andere Menschen sehr schnell mit ihren Gefühlen beurteilen (hier die Vertrauenswürdigkeit), ergibt sich bei mir durch Verstandesoperationen. Wo andere also durch ein trügerisches Gefühl zu zu wenig oder zu viel Vertrauen in andere Menschen verleitet werden, ist im Falle eines Irrtums bei mir meist meine geringe Menschenkenntnis ursächlich.
Aber ich bin natürlich nicht allein Akteur der Beziehungen zu Mitmenschen. Und da wird es dann kurios, wenn sich Menschen nicht so verhalten, wie es ihrer Kategorie in meinem Hirn entspricht. Das kommt gelegentlich vor, wenn jemand mich Dinge fragt, die über dem Vertrauenszugang seiner Kategorie liegen, oder über Dinge spricht, die für ihn von mir nicht vorgesehen waren. Dann muss ich entscheiden, ob ich mich auf meine bestehenden Urteile verlasse, oder mir diesen Menschen neu anschaue, ihn eventuell neu zuordne. Das merkt mein Gegenüber oft dann, wenn ich die oben genannten Kennenlernfragen wiederhole, weil ich die Antwort wegen zwischenzeitlicher logischer Irrelevanz inzwischen vergessen habe, sie nun aber wieder von Interesse werden, um die Person neu einschätzen zu lernen. Beispielsweise, wenn ich mir schon ein Bild von der Persönlichkeit eines Menschen gemacht habe, daher die bevorzugte Musik aus meinem Hirn löschte, nun diese Person andere Persönlichkeitsmerkmale zu zeigen scheint, und ich daher erneut fragen muss.
In summa klingt dies jetzt extrem kalt. Ein Mensch, der Leute in Schubladen steckt, sie wie Akten im Hirn sortiert und beurteilt. Manch einer mag zu diesem Schluss kommen. Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass bei Autisten generell gilt, dass die Trennung Gefühl-Gedanke sehr viel schärfer ausfällt, und das Hirn sehr viel schneller arbeitet, als das Gefühl. Das kommt danach und äußert sich autistisch, nicht, wie Nichtautisten es gewohnt sind. Aber es kommt. Habe ich mich mit meinem Hirn an einen Menschen gewöhnt, so zieht, individuell unterschiedlich betont, die Sympathie nach. Auch diese zeige ich oft anders: durch besonderes Interesse an Zustand und aktuellen Erfahrungen meines Gegenübers beispielsweise. Nach Gefühlen frage ich oft nur, wenn ein logischer Grund vorliegt. Einfach deswegen, weil ich mit diesen Gefühlen nur teilweise etwas anfangen kann.
Wenn ich mich dann aber an eine Person gewöhnt habe, eine Kategorie für sie gefunden habe, ihr vertraue und sie mag, und man erkannt hat, was Masking ist und was ich eigentlich bin, dann findet man in mir, wie in vielen anderen Autisten einen Menschen, der niemals aus einer schieren Laune heraus den Kontakt abbricht, der bei einem bleibt, so lange keine Einflüsse von außen die Beziehung zerstören, denn diese gehört dann für einen Autisten einfach mit zum Leben dazu. Wir mögen sie anders ausleben und gestalten – aber ich habe noch nie einen Autisten getroffen, der eine gute Freundschaft nicht wertgeschätzt hätte.

Intelligenztest

Wenn man Beschreibungen des Autismus liest, stößt man oft auf den Hinweis, Frühkindlicher Autismus ginge oft mit einer geringen Intelligenz, so genannter Hochfunktionaler Autismus und das Asperger-Syndrom mit einer normalen bis hohen Intelligenz einher. Für den Frühkindlichen Autismus kann ich nicht sprechen, lediglich für mich als Asperger-Autisten. Aber ich kann von einem Erlebnis von mir in diesem Feld berichten.
Nach meiner ersten Krise um meinen vierzehnten Geburtstag herum, wurde ich für kurze Zeit stationär auf einer jugendpsychiatrischen Kriseninterventionsstation aufgenommen. Diagnose: Mittelschwere depressive Episode. Zwar war die Ruhe dort recht entspannend und nahm mir einen Teil der Belastung, doch ständig in einem kleinen, steril-weissen Raum zu sitzen, ohne effektive Beschäftigungen, Abends nur das kalte Neonlicht als Leuchtquelle, die Überwachungskamera in der Ecke und die Gitter vor den Fenstern zu haben, das ist alles andere als angenehm. Ich kam mir vor wie ein Affe im Zoo – eingesperrt und begafft. Besonders für einen Menschen wie mich, für den Leben und Freiheit den selben Stellenwert besitzen, ist so eine Erfahrung äußerst unangenehm. Nach zwei Tagen wurde mein Freiheitsdrang so groß, dass ich begann, den Pfleger/Pädagogen, den Ärzte und meiner Familie eine Zustandsbesserung vorzuspielen. Ich spielte ihnen vor, wie ich vor der Krise war, obwohl es mir eigentlich nur um weniges besser ging. Es erstaunte, wie gut ich sie manipulieren konnte. Weniger bei meiner Mutter, welche eine generelle Ablehnung gegen Krankenhäuser und meine behandelnde Ärztin hegte, als das medizinische Personal. Jedenfalls wurde ich nach vier Tagen direkt von der Krise entlassen.
Meine Mutter organisierte daraufhin noch einen Psychotherapeuten für mich, mit dem ich jedoch nicht allzu gut klar kam. Direkt am Anfang zeigte dieser mir seine Narben am Handgelenk und erklärte mir, er habe sich auch einmal töten wollen. Warum er dies tat, wusste ich nicht – sollte ich jetzt ihn therapieren, oder welche Intention hegte er? Zu Beginn eine Psychotherapie bei Jugendlichen wird in der Regel ein Intelligenztest vorgenommen. Dieser misst die Intelligenz in verschiedenen Bereichen, beispielsweise Sprache, Geometrisches Denken, Emotionale Intelligenz. Ein solcher Test wurde auch mit mir durchgeführt. Zu Beginn sah ich dies eher kritisch und überlegte, den Psychologen zu bitten, mir das Ergebnis zu enthalten, um zu zu verhindern, dass ich mich darauf reduziere. Rechnete ich doch damit, allerhöchstens mittelmäßige Ergebnisse zu erzielen, da meine Schulnoten nicht überragend waren und ich mich im direkten Vergleich mit anderen Kindern auch eher als normalen, vielleicht etwas komischen Kauz sah, keinesfalls als eine Art „Superbrain“. Doch die Neugier siegte. Als die Ergebnisse vorlagen, war ich erstaunt: Meine emotionale Intelligenz, die ich ob meiner subjektiv starken Gefühle und die Anfälligkeit für Depression als stark ausgeprägt eingeschätzt hatte, war unterdurchschnittlich entwickelt. Den genauen Wert weiss ich nicht mehr, doch er lag unter dem Durchschnitt oder sehr dicht an der unteren Grenze. Der Durchschnitt liegt, zumindest für den gesamt-IQ bei 100, Werte von 80 bis 120 gelten als durchschnittlich intelligent. Meine Intelligenz im visuellen und geometrischen Bereich wurde dagegen sehr hoch bemessen. Den finalen Intelligenzquozienten, der bei mir festgestellt wurde, lag in einem Bereich, dass ich jahrelang von einem Messfehler ausging. Wie konnte jemand wie ich, mit meinen Problemen, mit meiner Mittelmäßigkeit, einen IQ von 139 besitzen?
An dieser Stelle möchte ich in einer kurzen Parenthese auf die Definition von Intelligenz hinweisen: Intelligenz ist nicht das Maß für tatsächliches Können oder für Wissen, sondern für das reine Denkvermögen. Die Umsetzung der Ergebnisse des Denkvermögens hängt von mehr ab, als dem IQ. Leider ist es in unserer Gesellschaft noch immer so, dass Minderbemittelung oft verachtet wird und intelligente Menschen bei Erwähnung derselben sich einer Prahlerei schämen. Dabei ist Intelligenz keinesfalls der Weisheit letzter Schluss. Wie schon Hermine in der Harry-Potter-Buchreihe treffend bemerkte: Es gibt wichtigere Dinge. Und darum erwähne ich selbst meinen IQ auch normalerweise nicht, ich halte ihn schlicht für nebensächlich. Im Zusammenhang mit Autismus jedoch gewinnt er eine gewisse Bedeutung, die ich am Schluss erwähnen will. Doch zurück zu den Geschehnissen im Spätsommer 2012.
Die Therapie brach ich ab, da ich mit dem Therapeuten nicht klar kam. Ich tat das, was ich seit Jahren tat: Ich suchte die Normalität und gab mir größte Mühe, mich anzupassen. Eine Psychotherapie passt da nicht ins Bild eines normalen Jugendlichen. Es gab niemanden, der sich derart um mich gesorgt hätte, dass er oder sie mir weitere Hilfen gegeben oder angeraten hätte – natürlich auch wegen des guten Maskings, das ich intuitiv betrieb und als normale Anpassung fehlerkannte.
Im Nachhinein, mit dem Bewusstsein meiner autistischen Existenz, erklärt sich dieser Wert für mich sehr gut. Und auch mein Denkfehler: Ich dachte mich vom Grundbild eines normalen Menschen her und suchte in diesem Bild Anzeichen für hohe Intelligenz. Darum entdeckte ich kaum solche Anzeichen. Tatsächlich jedoch verhielt es sich genau umgekehrt: Das Bild eines normalen Menschen, das ich Tag für Tag unter krankhaftem Aufwand imitierte, da ich davon ausging, dass es jedem so ginge wie mir und nie gelernt hatte, dass das Eintreten für meine Bedürfnisse akzeptabel sei, das war das erste, beste Zeugnis für diese Intelligenz. Nicht das Vorspielen selbst, aber das Erkennen der als „normal“ gelabelten Züge und das kognitive Integrieren derselben, sowie das Erkennen minimaler Abweichungen, um darauf „normal“ reagieren zu können. Und das beschreibt im Einzelfall die hohe Intelligenz sehr gut, die Asperger-Autisten oft bescheinigt wird: Sie erbringen die kognitive Leistung, die notwendig ist, nicht nur ihr Leben zu leben, sondern es auch noch einigermaßen unauffällig in einer Welt zu leben, welche nicht auf sie zugeschnitten ist.