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Der bekanntere, lateinische Satz des griechischen Spruches „gnothi seauton“ (Erkenne dich selbst). Eine autistische Freundin von mir brachte (relativ zum Zeitpunkt, an welchem ich diese Zeilen verfasse) vor kurzem ihr Dasein als Autistin folgendermaßen auf den Punkt: „Ich würde mich niemals für mich schämen. Ich habe ja keinen Autismus. Ich bin Autismus. Meine Persönlichkeit ist um den Autismus herum entstanden.“ (Grüße an dich an dieser Stelle) Dieser Satz blieb bei mir hängen. Es gibt Momente, in denen ich den Eindruck habe, dass mein Verstand mein Bewusstsein überholt, weil mir ein Wort, ein Satz oder ein Ausdruck im Fokus bleibt, ich aber erst nach einigen Momenten oder sogar Stunden darauf komme, weshalb. In diesem Fall war es die Frage nach der Identifikation, welche mich ja diesen Sommer maßgeblich beschäftigte. „Wie identifiziere ich mich in Konsideration des Autismusbegriffes?“, beziehungsweise bei mir: „Kann ich Autismus zur Identifikation verwenden, auch ohne das Go/No Go eines Psychiaters?“ Dazu erwägte ich die (sehr geringe „Unschärfe“ zwischen zwanghafter/schizoider Persönlichkeit und Autismus, meine Tests, welche haarscharf am Autismus vorbei schrammten unter Berücksichtigung der mangelnden Datenlage bezüglich meiner Kindheit, subjektive Berichte von diagnostizierten Autisten und schizoiden Persönlichkeiten, objektive Beschreibungen, meine Wahrnehmung und die Vor- Und Nachteile der Identifikation mit Autismus. In der Schlussfolge gewichtete ich meine subjektive Wahrnehmung als „Fragefeld“, die Tests (unter Berücksichtigung s. o.) und den Nutzen der „Landkarte zur Persönlichkeit“ am höchsten und entschied mich für eine Identifikation mit Autismus. Dass ich dennoch Zeit brauche, diese Identifikation in meine Denksysteme und Denkprozesse zu integrieren, zeigt die um Monate verzögerte Erkenntnis um die relative Normalität meiner Trauerreaktionen (siehe „Entwicklungsstörung“). Eine Frage bleibt aber tatsächlich offen, die jene Freundin individuell so eindeutig beantwortete: Habe ich Autismus oder bin ich Autist? Medizinisch-psychiatrisch wäre die Antwort wohl „ich habe Autismus“, da es sich um eine Diagnose handelt, die bei mir, wie erwähnt, aufgrund der schlechten Datenlage nicht final getroffen oder ausgeschlossen und somit legitimisiert werden kann, sondern „nur“ die zwanghaft-schizoide Diagnose, welche jedoch nur beinahe Deckungsgleich mit Autismus und meiner Wahrnehmung ist, da sie ein paar autistische Punkte auslässt, welche ich erlebe. In Parenthese sei erwähnt, dass sich beide Eltern, bei welchen ich aufwuchs, sich intensiv mit dieser Thematik beschäftigt haben und sich völlig uneins sind: Meine biologisch-väterliche Elternkomponente stützt die These gegen Autismus, meine Mutter ist sich nach eigenen Recherchen sicher, ich sei Autist. Doch zurück zum Thema. Bin ich Autist, wie jene Freundin sich betrachtet, oder habe ich Autismus? Nachdem die Medizin mir diese Frage nicht beantworten kann, liegt die Identifikation einzig an mir. Wenn ich es in Gedanken exerziere fällt mir auf, dass meine Hemmschwelle für die Identifikation „Ich bin Autist“ höher liegt als für „Ich habe Autismus“, da es eine objektiv gewagtere Aussage zu sein scheint. Doch auch hier ergibt die Kontrollfrage, wer das Recht hat, mich mit diesem Begriff, medizinisch betrachtet dieser Diagnose, welche bei mir rein empirisch eine Katze des Schrödinger ist, als Antwort: Ich. Denn ich kann in die Kiste schauen, ich kann wahrnehmen, ob die Katze lebt oder tot ist und ich bin der Meinung, wenn ich Verantwortung für mich übernehmen will, dann kann ich meine Wahrnehmung nicht ignorieren, sprich, ich kann mich nicht derart depersonalisieren, die unschlüssige Empirie über meine eigene Wahrnehmung zu stellen. Der beste Experte für ein Individuum ist es selbst (siehe „Selbstwert“). Ich habe alle in Frage stehenden Möglichkeiten erwogen, habe zu jeder Position Daten erhoben, habe lange Zeit auf die Abwägung verwandt und mich nicht gehetzt, habe letzten Endes sogar einen Stellungswechsel in meiner Haltung durchgeführt, da ich zunächst mit dem Begriff der zwanghaft-schizoiden Persönlichkeit operierte. Nun ist es an der Zeit, die Frage nach der Katze zu beantworten und mich festzulegen, um mich nicht immer wieder derart selbst in Frage zu stellen zu müssen. Und ich schließe mich der Identifikation meiner Freundin an: Ich habe keinen Autismus, ich bin Autist. Denn obgleich des Primates der Medizin und ihrer Diagnosen in den empirischen Autismusfragen geht es für mich nicht um irgendeinen Menschen sondern um den Menschen, für den ich die absolute Verantwortung und über den ich die absolute Souveränität und Autorität genieße, denn kein Psychiater, kein Freund, kein Mensch kennt mich besser als ich, wenngleich manche Menschen inc. jener Freundin erfahrungsgemäß und relativ zu anderen Menschen betrachtet sehr nah an meine Eigenkenntnis heranreichten. Diesen Satz „Ich bin Autist“ mit allen Konsequenzen und logischen Schlüssen zu übernehmen und mich und die Welt nicht nur möglichst aus der Beobachterperspektive, sondern auch aus der nunmehr unzweifelhaft legitimierten subjektiven Perspektive zu erfahren und auszuleben soll mein Vorhaben für die kommende Zeit sein.
Meinen Dank an s.ina für diesen für mich inspiratorisch grundlegenden Satz. Ich hoffe, ich kann oder könnte dir vielleicht ab und an in ähnlicher Weise dienen.