Theorie zu Ableismus

Diskriminierung ist einer der zentralen politischen Streitpunkte unserer heutigen Welt. Es ist ein Phänomen, welches globale Aufmerksamkeit erzeugt und somit eine Salienz ähnlich dem Klimawandel hat. Es ist eine praktische Kernfrage zur sozialen Gerechtigkeit, und damit zu einem Themengebiet, mit welchem sich schon große Philosophen wie Kant, Rousseau, oder später de Beauvoir und Nussbaum beschäftigten. Auf deren Theorien fußt dieser als Artikel gestalteter Bericht. In einer Zeit, in der zum ersten Mal Autist:innen, allen voran Greta Thunberg, beginnen, offensiv mit Autismus umzugehen und Autismus so in die Öffentlichkeit tragen – kurz: in einer Zeit, in der Autismus allmählich von der breiten Bevölkerung zu sehen begonnen wird, werden die Fragen nach den sozialen Ungerechtigkeiten und der Diskriminierung, der Autist:innen begegnen, immer dringlicher. In diesem Bericht sollen die bisherigen Kernbegriffe dazu quasi rekalibriert, definitorisch angeglichen und strukturiert werden, um dem angesprochenen Wandel gerecht zu werden.
Da sich der Artikel jedoch primär an ein interessiertes Allgemeinpublikum und nicht an die akademische Fachwelt richtet, wird auf einen Forschungsstand und ein Literaturverzeichnis verzichtet. Aus dem gleichen Grund wird dieser Artikel an manchen Stellen allgemeine Formulierungen und Ausdrücke den wissenschaftlichen vorziehen. Jedoch wird der Text eventuell dennoch gegebenenfalls „trocken“ erscheinen. Wer also die genaue Analyse und Logik auslassen möchte, kann einfach zum letzten Kapitel „Synthese und Schlusswort“ springen, und sich dort die Takeaway-Points abholen. Und da es sich nicht nur um ein soziologisches, sondern auch ein moralisches Problem handelt, wird dieser Artikel normative Züge statt ein empirisches Design aufweisen. Ziel ist es, die Frage zu klären, was Ableismus bedeutet und wie Disableismus einzuordnen ist. Dies geschieht, fortführend die bereits erwähnte Veränderung, vor dem Hintergrund mehrerer Bewusstseinswandel, weg von reinen Krankheitsbildern in Sachen Autismus und weg von physischen und intellektuellen Vorstellungen in Sachen Behinderung. Denn mit dem Aufstieg der Neurodiversitätstheorien werden diese Vorstellungen der Realität nicht mehr gerecht. Autist:innen begegnet Diskriminierung, obwohl sich eine nicht unerhebliche Zahl derer nicht als krank betrachtet, sondern „first and foremost“ als anders. Autismus ist keine Geisteskrankheit, wie Depression, keine spezifisch sexuelle Varianz, wie Homosexualität, keine Reduktion, wie pathologische Intelligenzminderung, und keine aus sich selbst heraus Leid erzeugende Störung, wie sie mir viele Menschen mit schizotyper Persönlichkeitsstörung beschrieben. Autismus als Andersartigkeit kann sich nicht in diese Bereiche einordnen lassen, ist jedoch am ehesten mit Transsexualität vergleichbar: In beiden Fällen sieht man die Identität oft nicht am (biologischen) Erscheinungsbild an, beide Phänomene greifen mental sehr tief, bis in die eigene Persönlichkeit, haben mit Wahnehmung (Selbstwahrnehmung/allgemeiner Wahrnehmung) zu tun, sind per se und von vielen Betroffenen wahrgenommen keine Behinderungen oder negativere Existenzformen, doch beide sind mit Behinderung und Diskriminierung konfrontiert. Das passt allerdings nicht mit dem absolut negativem klassischen Behinderungsbegriff zusammen. Dieser Konflikt bedingt, dass eine reine Fragebeantwortung nicht ausreicht, sondern dass Begriffe und Theorien neu aufgebaut werden müssen. Herkömmliche, tradierte und Verbreitete Ideen und Theorien, welche die Neurodiversitätsidee nicht einschließen reichen nicht mehr aus.

Gliederung

Um also die genannte Frage behandeln zu können, werde ich erst einmal mich selbst in dem Kontext der Diskriminierung einordnen, um transparent zu machen, wo ich mich in diesem Raum befinde, wo ich auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen kann, und wo Abstraktion nötig ist. Danach folgen einige Begriffsdefinitionen, damit bekannt ist, was einzelne Wörter bedeuten, denen Schlüsselpositionen in der ableistischen Diskriminierungsthematik zukommt. Die Definitionen werden mit Rückgriff auf den Duden, manchesmal auf Vordenker, und zum Teil auf meinen Gedankengängen basieren. Im Anschluss daran erfolgt eine praktisch-allgemeine Beschreibung von Ableismus und Disableismus, um darzustellen, wie dies real erfahrbar ist. Um auf den Konfliktbereich Autismus vorzustoßen, beschreibt das darauffolgende Kapitel Ableismus und Disableismus in diesem Umfeld speziell. Im Abschnitt „Begriff der Behinderung“ wird erläutert, was Behinderung bedeutet, was eine Behinderung ausmacht und worin Behinderungen begründet sind. Der zentrale Teil ist das Kapitel der Theorie des Ableismus, in dem die vorherigen Gedankengänge und Erkenntnisse synthetisch zusammengeführt und zu einer Theorie aufgebaut werden. Das letzte Kapitel fasst den Text noch einmal zusammen und beantwortet die eingängliche Fragestellung.

Eigene Einordnung

Als hetersexueller cis-Mann bin ich keinem strukturellen Sexismus ausgesetzt. Als Weißer bin ich auch nicht das Ziel von strukturellem Rassismus. Die Frage nach dem Klassismus lasse ich als Kind zweier recht verschiedener Familien ausgeklammert. Als Autist begegnet mir Disableismus jedoch sehr oft sowohl auf struktureller und institutioneller, als auch auf individueller Ebene. In den übrigen Fällen möchte ich die Frage nach der individuellen Diskriminierung offen lassen, da es je nach Definition und Theorie schwierig ist, die Frage nach individuellem Rassismus respektive Sexismus gegen Weiße respektive Männer zu beantworten (Stichpunkt transMänner, Migrant:innen zweiter Generation), doch würde ich spontan nicht auf einen Nachteil meiner Person durch diese Phänomene erkennen. Da sich dieser Artikel nicht mit jenen Themen beschäftigt, kann und will ich die gerade angesprochene Problematik auch nicht an dieser Stelle schließen. Da ich Autist bin und entsprechende Erfahrungen gemacht habe, werde ich diese in den Artikel einfließen lassen, wo qualitative Empirie angebracht ist.

Begriffsdefinition

Ableismus
Ableismus ist zu definieren als Glaubenssatz beziehungsweise Einstellung, derzufolge der als gesund, normal und nicht behindert geltende Mensch das Ideal darstellt und Menschen, welche nach Ansicht des Subjekts als krank oder behindert oder mental andersartig gelten, als abnormal betrachtet und als minderwertig angesehen werden.
Der Duden (https://www.duden.de/rechtschreibung/Ableismus, 06.05.2021) definiert Ableismus als „Abwertung, Diskriminierung, Marginalisierung von Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken aufgrund ihrer Fähigkeiten“. In diesem Artikel wird obrige Definition verwendet.
Dem Merkmal der Fähigkeiten folgend, schließen sich andere, wie Gregor Wolbring (University of Calgary) dem Duden im Fokus auf die Variable der Fähigkeiten an.

Disableismus
Diskriminierendes Verhalten auf Basis von Ableismus.

Diskriminierung
Ungleichberechtigung, Ungleichbehandlung, Herabwürdigung, Abwertung oder Ausschluss zum Nachteil von Menschen.

Egalitarismus
Chancengleichheit, gleicher Ressourcenzugang.

Gerechtigkeit
Zustand der Gültigkeit allgemeiner moralischer Prinzipien.

Minderwertigkeit
Nicht für die gleichen Chancen, Rechte beziehungsweise Berechtigungen, Werte oder die gleiche Würde qualifiziert.

Neurodiversität
Konzept der Vielfalt (Diversität) neurobiologischer Prädispositionen und Merkmalen. Hier wird zwischen neurotypischen Menschen und neurodiversen Menschen (Autist:innen, Menschen mit AD(H)S im engeren, im weiteren Sinne LGBTQ+) unterschieden.

Praktisch-allgemeine Beschreibung von Ableismus und Disableismus

Klassischer Disableismus äußert sich z. B. in Fehlen von barrierenfreien Gebäudezugängen, womit gehbehinderte Menschen ausgeschlossen werden. Weitere Beispiele sind akustische Durchsagen ohne schriftliche Anzeige, welche gehörlose Menschen benachteiligt. Struktureller Disableismus äußert sich jedoch auch in der Exklusion durch Nichtbeachtung. Vielerorts wird nicht an behinderte oder chronisch kranke Menschen gedacht. So wird in Schulen Wissen bisweilen auf eine einzige Art gelehrt, wie dem Abschreiben, was Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche benachteiligt. Führungsstreifen für Blindenstöcke werden oft nur unzureichend oder überhaupt nicht farblich markiert, was Menschen mit eingeschränkter Sehleistung das Auffinden dieser Streifen erheblich erschwert.
Diese Beispiele sollen einen Eindruck vermitteln, welche Formen Disableismus annehmen kann. Zweifellos handelt es sich dabei nur um eine Auswahl, bei aufmerksamer Beobachtung werden sich zahllose Beispiele finden lassen.

Praktisch-spezielle Beschreibung von Ableismus und Disableismus zum Nachteil von Autist:innen

Eine solche Beschreibung könnte Bücher füllen. Für eine umfangreiche Darstellung empfehle ich das „Schwarzbuch der Diskriminierung von Autisten“ (http://auties.net/book/export/html/168). Auf institutioneller Ebene ist als Beispiel der erhebliche Mangel an Diagnosemöglichkeiten gerade für erwachsene Autist:innen zu nennen. Weiterhin das Fehlen eines einheitlichen Diagnoseschemas, die im ICD-11 wegfallende, doch noch gebräuchliche Separierung von Autismus in Syndrome oder hoch- und niedrigfunktionalen Autismus oder auch die auch in der psychologischen und psychiatrischen Fachwelt oftmals unzureichende Qualifikation. So wollte mir eine Psychiaterin einst erklären, was ich als Autist verstehen könne, obwohl ich es nicht verstand. Auch wird auch in der Fachwelt und nach eigenen Erfahrungen eine hohe Anpassungsfähigkeit mit geringer Ausprägung von Autismus gleichgesetzt, obwohl dies so wenig stimmt, wie ein guter Schauspieler für einen Filmbösewicht tatsächlich böse ist.
Auf struktureller Ebene findet man Disableismus zum Nachteil von Autisten in Form von unnötig intensiven Reizemittern, z. B. leuchtenden Werbetafeln. Weiterhin begegnet einem diese Form der Diskriminierung oft im Sprachgebrauch, wenn Autismus falscherweise als Krankheit bezeichnet wird, oder die Existenz als Autist:in mit Leid gleichgesetzt wird („XY leidet an Autismus“), wie z. B. hier: https://www.fr.de/frankfurt/moritz-sprechen-lernte-11094270.html. Besonders grausame Züge nimmt dies an, wenn Morde an Autist:innen maginalisiert wird oder sogar mit den Tätern sympathisiert werden, wie hier: https://mn.gov/mnddc/news/inclusion-daily/2004/06/060204auabusedawes.htm. Weitere Ausführungen und Beispiele dafür hier: https://autisticadvocacy.org/2012/04/killing-words/. Auch das framen als untauglich oder geisteskrank fällt in den Bereich der sprachlichen Diskriminierung, z. B. hier: https://bit.ly/3bfI9R7, z. B. hier: https://bit.ly/2RBUCb1.
Strukturell Diskriminiert werden Autist:innen jedoch auch und besonders durch gesellschaftliche Normen. Körperliche Berührungen können für Autist:innen sehr intensiv sein. Dennoch wird vielerorts auf den Handschlag zur Begrüßung bestanden. Wer nicht lächelt, gilt als griesgrämig und unhöflich. Stimming durch z. B. wiederholende Bewegungen gilt als ablenkend und störend und wird gerügt. Die Liste an Vorurteilen zum Thema Autismus ist lange und wurde von mir im gleichnamigen Bericht bereits thematisiert. Unabhängig von der individuellen Ausprägung des Autismus wird Autist:innen oft eine Karriere in sensiblen Berufen, wie manchen Polizeibehörden, verwehrt (https://bit.ly/3y1rScb, hier wird AD(H)S als Ausgrund der „Seelischen Instabilität“ genannt. Autismus zwar nicht explizit, doch ist Autismus mit AD(H)S verwandt). Die Fernsehserie „The good doctor“ greift dies auf.
Ebenfalls grausam ist die Folge aus der Unwissenheit vieler Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und auch vieler Ärzte zum Thema Overloads, Meltdowns und Shutdowns. Während mir nach einem Meltdown in einem Krankenhaus schon gedroht wurde, dass Zwang (Zwangsmedikation, Einweisung auf eine geschlossene Station) gegen mich eingesetzt wird, wenn dies erneut auftreten sollte, ist es mehr als realistisch, dass dies bei anderen AutistInnen tatsächlich umgesetzt wurde, da bei einem Meltdown leicht auf Fremdgefährdung fehlgeschlossen werden kann, wenn Berührungen körperlich abgewehrt werden, oder auf Eigengefährdung, wenn dieser z. B. als Psychose fehlerkannt wird. Da es in der akademischen Medizin, wie ich selbst erfahren habe, praktisch keine Fehlerkultur gibt, kann ein solcher Irrtum schwerwiegende Konsequenzen haben. Auch die noch immer angewandte ABA-Therapie ist als strukturelle Diskriminierung zu sehen. Nicht nur, dass das US-Verteidigungsministerium in einer Studie 2020 nachgewiesen hat, dass sich „Erfolge“ und „Misserfolge“ bei ABA die Waage halten, also kein therapeutischer Effekt allgemein nachweislich ist, sondern auch die Anerziehung „normaler“ Verhaltensweisen durch Belohnung und Strafe (oder negatives bzw. positives „Reinforcement“, wie ABA-Therapeuten es nennen) zum Zwecke der ständigen Auslöschung autistischer Verhaltensweisen (https://taz.de/Umstrittene-Autismus-Therapie/!5358260/) stellen eine eindeutige Diskriminierung dar: Autismus wird die Existenzberechtigung abgesprochen. Skinner entwockelte ABA auf Basis der Erziehung von Tieren, nicht von Menschen (Wikipedia), Lovaas entwickelte die Therapie maßgeblich weiter – hin zu ABA, wie wir es heute kennen in der Form, dass ABA nach den gleichen Mustern wie die 2017 in Deutschland an Minderjährigen verbotene Konversionstherapie zur „Heilung“ homosexueller Menschen. Die Konversionstherapie ist übrigens auch ein Werk Lovaas‘. Andere Verhaltenstherapien, welche die Bedürfnisse und individuellen Interessen der Therapierten mit einschließt, und nicht auf eine Verbesserung von Autismus, sondern lediglich auf ein Vermitteln von Taktiken, damit Autist:innen sich in dieser Welt zurecht finden können, abzielt, ist wesentlich angemessener.
Auf individueller Ebene zeichnet sich die Diskriminierung in erster Linie durch Vorurteile und Verallgemeinerung aus, sowie durch Marginalisierung. Vorteile, wie „Autist:innen haben keine Gefühle“, oder „Autist:innen sind geistig eingeschränkt“, oder auch das Vorurteil, welches mir einmal begegnete, Autist:innen seien unvorhersehbar aggressiv schließen diese aus der Gesellschaft aus. Verallgemeinerungen negieren ihre Individualität. Härtere Formen stellen Beleidigungen und Angriffe auf Basis des Autismus dar. So habe ich mich diesbezüglich schon mit hier nicht zitationsfähigen Begriffen beschimpfen lassen müssen. Marginalisierungen sind auch alltäglich gegenwärtig. Hier wird in Frage gestellt, dass Autist:innen bestimmte Bedürfnisse (z. B. nach Ruhe oder Stimming) haben, ihre Wahrnehmung wird hinterfragt, (z. B. dass es gar nicht so laut sei, dass man Ohrschützer brauche, s. g. „Gaslighting“), ihnen wird entgegen gehalten, sie müssten sich nur mehr anstrengen, dann könnten sie sich „ausrechend“ anpassen.

Begriff der Behinderung

Landläufig wird als Behinderung negativ konnotiert und die Ursache in der behinderten Person gesehen. Das Paradebeispiel liefert die Definition des Duden für das Wort „behindert“: „infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/behindert, 06.05.2021). Dieser Begriff wird, wie in der Einleitung erwähnt, dem Neurodiversitätsgedanken nicht gerecht, der in Begriffen der neurobiologischen Diversität denkt. Dem Autismus wird es gänzlich nicht gerecht, da Autismus von vielen Betroffenen nicht als Schaden betrachtet wird. Autismus geht mit Vor- und mit Nachteilen einher. Eine pauschale Darstellung als Schaden ist zu undifferenziert. In der Definition des Duden denkend und die Neurodiversitätstheorie beachtend wäre Autismus also keine Behinderung. Und doch ist in Deutschland für Autismus ein Grad der Behinderung von 0 bis 100 vorgesehen. Dennoch sind manche Dinge Autist:innen schwer bis überhaupt nicht möglich. Ich für meinen Teil kann mich, ob der Beleuchtung, der oftmals sehr farbintensiven Auswahl, der vielen tonemittierenden Menschen, der Hintergrundmusik und oft auch der speziefischen Gerüche wegen, nur eine begrenzte Zeit in Ladengeschäften aufhalten.
Somit bedarf es eines neuen Begriffes der Behinderung. Den nicht kritisierten Teil der Definition des Duden aufgreifend ist eine Behinderung eine Beeinträchtigung. Ironischerweise definiert der Duden eine „beeinträchtigen“ als das Ausüben einer behindernden Wirkung (https://www.duden.de/rechtschreibung/beeintraechtigen). Beide Begriffe sind dahingehend recht synonym. WIkipedia greift das deutsche Sozialrecht auf und definiert Behinderung auf seiner entsprechenden Seite als „Als Behinderung bezeichnet man eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer Person. Verursacht wird diese durch die Wechselwirkung ungünstiger sozialer oder anderer Umweltfaktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der Betroffenen, welche die Überwindung der Barrieren erschweren oder unmöglich machen.“ (Farbänderungen/Fettdruck im Original). Dies erscheint schlüssiger und zeigt das entscheidende Element auf: Die Wechselwirkung. Eine Behinderung entsteht in einer Wechselwirkung. An und für sich, in einer für die behinderten Personen idealen Welt, entsteht keine Behinderung. Denn Behinderung ist eine Folgeerscheinung aus Krankheit, Störung oder Andersartigkeit, nicht Krankheit, Störung oder Andersartigkeit selbst. Merkmale wie Sexualität oder Hautfarbe fallen nicht darunter, da eine Exklusion von beispielsweise homosexuellen oder schwarzen Menschen nicht einer Wechselwirkung entspricht, sondern auf Vorurteilen und Ideologie beruht. Doch eine ungünstige Umwelt, wie der beschriebene Laden, steht in Wechselwirkung mit dem Fehlen von mentalen Filtern bei meiner Person. Wären Läden nach meiner Vorstellung gestaltet, wären sie dunkler, ohne Hintergrundmusik, zumeist anders sortiert und auf eine maximale Besucherzahl ausgelegt. Ebenso verhält es sich mit beinamputierten Menschen: Mit Zugang zu hochentwickelten Prothesen besteht nur eine geringe Beeinträchtigung. An manchen Stellen kann eine Beinamputation sogar von Vorteil sein, auch wenn dies nur sehr selten der Fall ist. Man denke sich das Beispiel des beinamputierten Piloten der Royal Air Force, der erheblich belastendere Manöver steuern konnte, da ihm das Blut nicht in die Beine sacken konnte. Es gäbe also zwei Möglichkeiten, eine Behinderung theoretisch auszuräumen: Neutralisierung der relevanten personenbezogenen Eigenschaften, oder relevanten Umweltfaktoren. Die Formulierung „Mensch mit Behinderung“ zeichnet sich als zu einseitig ab, weil diese Formulierung die Behinderung mit dem Menschen allein assoziiert. „Behinderter Mensch“ scheint treffender, da der Mensch hier passives Subjekt der Behinderung ist. Daher wird diese Formulierung hier Verwendung finden, doch natürlich gilt das Primat der Eigenidentifikation: Wer sich selbst als „Mensch mit Behinderung“ identifiziert, ist auch so zu benennen. „Behinderter Mensch“ signalisiert die Existenz anderer, aktiver (umweltbezogener) Faktoren als Ursache der Behinderung, während „Mensch mit Behinderung“ nicht nur die Behinderung an den Menschen allein bindet, sondern gleichzeitig beides voneinander differiert. Mensch ist nicht Behinderung, ist nicht Mensch – das ist bei Autismus, wie insgesamt im Neurodiversitätstheorem, ein kritisierter Streitpunkt.
Weil die Mehrheit der Deutschen keine lateinische Bibel lesen konnte, wurde diese von Luther übersetzt. Die Umweltfaktoren wurden angepasst, statt dass man den Bürgern Lateinunterricht gegeben hätte. Hier zeigt sich ein hochinteressantes Phänomen: Das des aktiven Hinderns. Wenn ich, hypothetisch gesprochen, in eine Steinrampe Stufen schlage, dann ist nicht die fehlende Fähigkeit zum Gehen ursächlich für einen fehlenden Zugang in ein Gebäude, denn dieser war zuvor mit Hilfe eines Rollstuhls problemlos gegeben. Ursächlich ist mein Einschlagen von Stufen. Diese Aktion hat die problematische Wechselwirkung hervorgerufen. Damit habe ich nicht Menschen mit Behinderung erzeugt, sondern aktiv Menschen behindert. Somit würde ein Problem erzeugt, was sich leicht und ohne Nachteil für andere ausräumen ließe: Durch das Neuanlegen einer Rampe. Und so verhält es sich mit sehr, sehr vielen Behinderungen. Sie wären durch Neutralisierung der Umweltfaktoren wesentlich einfacher zu beseitigen, als durch eine kollektive Anpassungsleistung der Betroffenen. Eine Nachtschaltung in Werbekästen einzurichten wäre einfach. Das Licht in Läden zu dimmen wäre einfach. Geschwindigkeiten innerorts auf 30 Km/h zu senken, um den Lärmpegel zu senken, wäre möglich. Andersartigkeiten und gefahrloses sonderbares Verhalten zu akzeptieren wäre einfacher, als auf ein bestimmtes Verhalten zu bestehen und Autist:innen zur Anpassung zu nötigen. Damit lässt sich festhalten, dass betroffene Menschen oftmals nicht per se behindert sind, sondern behindert werden.

Theorie des Ableismus

Wie an obrigen Definitionen zu erkennen, ist noch immer für viele Menschen der zentrale Begriff des Ableismus der der Fähigkeiten. Ihr Fehlen stellt die ausschlaggebende Variable bei der Identifikation von ableistischer Diskriminierung dar. Doch dieser Ansatz ist lückenhaft. Denn Autist:innen werden bisweilen auf Basis von fehlenden Fähigkeiten diskriminiert, die sie eigentlich haben. Die bereits erwähnte Serie „The good doctor“ zeigt das sehr gut: die Hauptperson ist ein voll qualifizierter Arzt, wird aber um ein Haar nicht eingestellt, da das Vorurteil im Raum steht, er sei nicht fähig, mit Patient:innen ordentlich umzugehen. Dabei hilft seine Sorgfalt bei der Behandlung. Ich war einmal in der Situation, dass eine schwangere Freundin von mir angegriffen wurde. Diese Situation habe ich auch in einem der hiesigen Berichte zum Thema Empathie geschildert. Ich hatte ein (legales!) Abwehrgerät. Während ich befürchte, dass viele überhaupt nicht eingreifen würden (was tatsächlich in diesem Fall auch so war), denke ich aber auch, dass manche in der Situation abgedrückt und so den Aggressor physisch abgewehrt hätten. Ich habe dies nur angedroht. Legal wäre es laut Polizei dennoch gewesen, der Angriff und damit die Not war manifest. Ich habe trotz großer Angst nicht abgedrückt, da mir diese Maßnahme noch nicht als Ultima Ratio notwendig erschien, die Drohung schien mir genug. Mein Verstand dominierte meine Gefühle. Die klare Trennung zwischen Gefühlswelt und Verstand ist ein Phänomen, welches im Autismus weit verbreitet und oft besonders stark ausgeprägt ist. Schon Kant, bei dem Autismus vermutet wurde, trennt beide Welten klar voneinander ab (Vgl. GmS), was einen Hauptkritikpunkt an seiner Arbeit darstellte (Vgl. Schillers dichterische Kritik an Kant). Es ist eine Fähigkeit, welche sicher auch im Polizeidienst hoch willkommen wäre und Schwachpunkte aufwiegt, denn jeder Mensch besitzt Stärken und Schwächen. Autist:innen also generell a priori von der Polizeiausbildung auszuschließen ist diskriminierend, denn sie könnten diese durchaus bestehen. Andere Gründe, wie ein Mindestmaß an Sehleistung ohne Brille sind einsichtiger, da Polizist:innen auch ohne Brille treffsicher schießen können müssen. Doch Autismus geht nicht und definitiv nicht in jedem Fall mit Phänomenen einher, die einen generellen Ausschluss rechtfertigen würden. Auch geringe Empathie ist kein Grund, gibt es doch auch autistische Psychotherapeut:innen. Dass diese Regelung doch existiert stellt institutionelle Diskriminierung von Autist:innen dar. Es lässt sich erkennen, dass Autist:innen Diskriminierung nicht nur auf Basis fehlender Fähigkeiten erfahren. Vielmehr stützt sich die Diskriminierung von Autisten auf subjektive Vorstellungen von Autismus. Gerade die Veröffentlichung auf CNN vom Beschuss und der schweren Verletzung eines 13-jährigen Autisten zeigt das (https://edition.cnn.com/2020/09/08/us/salt-lake-city-police-shoot-boy-autism-trnd/index.html). Die Polizisten schossen offensichtlich nicht als Reaktion auf eine Bedrohung, sondern wegen subjektiver Gründe, die durchaus mit Autismus zu tun haben müssen, andernfalls werden in den USA selten weiße, unbewaffnete 13-jährige erschossen. Dass Zwischenfälle dieser Art zwar Extema darstellen, doch Probleme zwischen Autismus und der Polizei nicht selten sind, zeigt sich daran, dass in den USA behinderte Menschen einschließlich Autisten fünf Mal häufiger von der Polizei eingesperrt werden (https://bit.ly/2R4F6V3), obwohl Autist:innen tendenziell nicht zu höherer Kriminalität neigen (https://de.wikipedia.org/wiki/Asperger-Syndrom#Kriminalstatistik). Empirisch fehlende Fähigkeiten rechtfertigen keine Ingewahrsamnahmen oder Festnahmen, sondern eine Verhaltenstherapie, um diese zu erlernen. Daher muss bezweifelt werden, dass die erhöhten Zahlen von fehlenden Fähigkeiten herrühren. Wahrscheinlicher scheinen Vorurteile, Fehlurteile und Minderwertigkeitsdenken gegenüber als behindert oder mental andersartig aufgefassten Menschen, einschließlich Autisten. Daraus folgt, dass die fähigkeitsbezogene Definition von Autismus zu kurz greift und die oben genannte Definition holistischer und, vor dem Hintergrund des neu erarbeiteten Begriffs der Behinderung als behindert-werden statt des behindert-seins, zutreffender. Sie lässt sich zudem mit der Definition von Autismusfeindlichkeit verbinden, als „Trifft eines dieser Kriterien zu, handelt es sich nicht mehr um bloße Kritik: Doppelmoral, Dämonisierung, Delegitimierung [von Autist:innen respektive Autismus, Anm. JW]“ (http://auties.net/book/export/html/168). Während darin keine klare begriffliche Differenzierung zu disableisticher Diskriminierung getroffen wurde, wurden diese drei Begriffe in der obrigen Definition aufgegriffen. Doppelmoral in den Ungleichbehandlungsbegriffen der Diskriminierung, Dämonisierung in der Herabwürdigung, Delegitimierung in der Abwertung. Auch in der Definition von Minderwertigkeit finden sie sich wieder. Aus Doppelmoral wird die fehlende Qualifikation für gleiche Rechte/Berechtigungen, aus Dämonisierung die fehlende Qualifizierung für gleiche Werte, aus Delegitimierung die f. Q. f. gleiche Würde.
Der Schlüsselbegriff der Minderwertigkeit als Geisteshaltung gegenüber dem Phänomen selbst ist nun ein Begriff, der einer genaueren Betrachtung bedarf. Denn eine Querschnittslähmung kann als nicht wünschens-werte Abnormalität betrachtet werden. Wo ist also die Grenze zwischen Ablehnung einer Einschränkung per se, und Ablehnung von Autismus? Hier gilt es, die Verbundenheit zwischen Phänomen und Person zu betrachten. Indizierende Variable ist die Frage, in wie weit das Phänomen die Person ausmacht, wie weit sich die Person darüber definiert, und wie sehr die Behinderung alleinig von dem Phänomen selbst und weniger von der Umwelt abhängt. Querschnittslähmungen, pathologische Intelligenzminderungen, chronische Depressionen, et cetera tragen einen mehr oder minder hohen Eigenanteil an der Behinderung oder dem subjektiven Leid. Verlust von Motorik oder Sensorik, von Denkkapazität oder Gefühlsleere und subjektiver Lebensqualität können zwar bis zu einem gewissen Grad durchaus von der Umwelt ausgeglichen werden (siehe z. B. Steven Hawkings technologische Hilfsmittel) und ggf. sogar von Vorteil sein (Kampfpiloten-Beispiel, s. o.), doch ist und bleibt die Einschränkung unausgeglichen. Bei Autismus ist dies nicht der Fall: Die andersartige Mentalität sorgt dafür, dass im Allgemeinen die „Schwächen“ „Stärken“ mit sich bringen. Das strukturelle Denken sorgt zwar für ein Angewiesen-sein auf Strukturen und Ordnungen, doch ermöglicht es, diese zuverlässig aufzubauen, und Abweichungen sofort zu erkennen, wo es gefragt ist. Und Strukturen sind in der Welt so wichtig, dass es im Polit(olog)ischen den Begriff der „Weltordnung“ gibt. Autist:innen mögen kaum in der Lage sein, die Gefühle von neurotypischen Menschen eins zu eins nachzufühlen, doch sie können durchaus mitfühlen, mitleiden und sich mitfreuen. Manche Autist:innen können nicht sprechen, doch erstklassig ganze Romane schreiben. Oder sie können Geräusche nicht filtern, erleben daher z. B. bevölkerte Plätze als höchst unangenehm, aber können aus dem selben Grund Musik viel intensiver genießen, als neurotypische Menschen. Die Ursachen der Behinderungen sind hier praktisch gleichmäßig auf personenbezogene und umweltbezogene Faktoren verteilt. Das macht den Unterschied zwischen der Minderwertigkeit und der Minderwünschbarkeit aus. Es ist absolut nachvollziehbar und verständlich, sogar vernünftig, niemandem Depressionen, pathologische Intelligenzminderungen, Demenz oder Amputationen zu wünschen. Autismus zu wünschen kann jedoch, wenn man die Vorurteile, die hinter einem solchen Wunsch vermutet werden können, streicht, und Autismus als das nimmt, was es ist, als normativ neutral betrachtet werden. Selbstverständlich sollte man sich derartiger Wünsche dennoch enthalten, da die eigene Neurodiversität oder Neurotypik eines jeden Menschen eigene Angelegenheit ist. Erkennbar wird jedoch, dass der Minderwertigkeitsgedanke des Ableismus von der Wünschbarkeit des fraglichen Phänomens unabhängig ist. Ableismus betrachtet Autismus als Minderwertig, wie es Demenz als Minderwertig betrachtet, und Trisomie 21, wie Querschnittslähmungen. Ableismus ignoriert entweder die Untrennbarkeit von neurodiversen Phänomenen mit der Person, oder es erweitert das Minderwertigkeitsdenken vom Phänomen ausgehend auf die Person.

Synthese und Schlusswort

Ableismus bedeutet die Ansicht vom als vom ableistischen Subjekt als krank, mental abnorm oder behindert betrachteten Objekt als minderwertig, also als nicht qualifiziert für gleiche Chancen, Werte, Recht/Berechtigungen oder gleiche Würde. Disableismus beschreibt jede darauf basierende Handlung. Richtet sich Ableismus gegen Autismus, kann dies als (bewusste/unbewusste) Autismusfeindlichkeit bezeichnet werden. Dieser Begriff verbindet die Spezifizierung auf den Bereich des Autismus mit dem Holismus der darin inkludierten Phänomene, und ist somit wahrscheinlich der treffendste. Autismusfeindlichkeit stellt im Wesentlichen eine Subsumption unter Ableismus dar. Da Autismus genetisch bedingt und somit untrennbar mit dem autistischen Objekt verbunden ist, besteht Ableismus auch, wenn das Subjekt versucht, zwischen Mensch und Autismus zu differenzieren, und sich das Minderwertigkeitsdenken „ausschließlich“ auf den Autismus bezieht. Disableistische Diskriminierung ist die Ungleichberechtigung, Ungleichbehandlung, Herabwürdigung, Abwertung oder der Ausschluss von Autist:innen aufgrund der Auffassung derselben als Autist:innen als minderwertig. Oft geschieht dies auf Basis des überholten Denkens von Autismus als Geisteskrankheit oder geistige beziehungsweise seelische Behinderung. Eine Bezeichnung, welche auf als solche erkannte mentale Behinderungen, Krankheiten oder Andersartigkeiten abzielt, und somit bewusst eine Unterscheidung von dem vorrangig in körperlich-physischem Kontext verwandten Ableismus trifft, ist Mentalismus (https://en.wikipedia.org/wiki/Sanism). Dieser Begriff kann daher unter Beibehaltung der obrigen Definitionen, ebenfalls verwendet werden. Bezüglich des Terminus der Behinderung ist festzuhalten, dass Behinderungen stets in einem situativen Kontext entstehen, durch die Wechselwirkung von personen- und umweltbezogenen Elementen. Das bedeutet, Menschen sind nicht a priori behindert, sie werden behindert respektive erfahren Behinderungen im Kontext der Umwelt. Um eine allgemein und besonders sozialstrukturell gerechte Gesellschaft herzustellen, bedarf es der Beachtung dieser Begriffsinhalte, um Vorurteile aufarbeiten zu können und ein inklusives Miteinander auf Augenhöhe zu pflegen. Dies ist nötig, damit einerseits die Gesellschaft von den Fähigkeiten und der Vielfalt der Neurodiversität profitieren kann, und andererseits, damit Autisten und Autistinnen und andere Menschen des neurodiversen Spektrums eine vollwertige gesellschaftliche Teilhabe und die ihnen zustehende Würde und Wertschätzung erfahren können.