Stimming

Stimming ist die Kurzform von „Self Stimulating Behavior“, selbststimulierendes Verhalten. Darunter versteht man in der Psychologie das Applizieren von Reizen an der eigenen Person, um Stress abzubauen, andere Reize zu überzeichnen, et cetera. Diese Reize füllen eine große Bandbreite und sind nicht alleiniges Merkmal des Autismus. In Extremformen tauchen sie als selbstverletzendes Verhalten auf, jedoch sind die meisten Formen harmlos, beispielsweise das Flattern oder Reiben mit Händen, hin- und herbewegen des Oberkörpers (Stimulus durch die wiederholende Bewegung), das Wiederholen von Geräuschen oder Worten, oder auch das „Spielen“ mit Gegenständen darunter gezählt werden. Prinzipiell kann jeder Mensch Stimming aufweisen, bei Autismus jedoch findet man dieses Verhalten oft. In der Kindheit kann sich dies in Form von Daumenlutschen oder exzessivem Nägelkauen äußern, und trifft in dieser Form oft auf Irritationen und Sanktionierung. Aber auch bei erwachsenen Autisten findet sich dieses Verhalten, zuweilen deutlich subtiler. Wer würde schon Autismus vermuten, nur weil ein Mensch während einer Besprechung mit einem Stift zwischen den Fingern spielt? In angespannteren Situationen jedoch können deutlich auffälligere oder härtere Formen des Stimmings auftreten.
Ich zeige Stimming oft in Form von Berührungen des eigenen Körpers, beispielsweise durch Reiben meiner Oberschenkel oder meiner Hände, wie ein trockenes Händewaschen. Diese Berührungen ziehen den Fokus auf sich, und lenken damit von anderen, gegebenenfalls stressenden Eindrücken ab. Wenn ich unter größerem Stress stehe, dann beginne ich, im Kreis zu laufen oder mit dem Oberkörper (s. o.) zu pendeln. In Overloads und Meltdowns kann es vorkommen, dass ich gegen Gegenstände schlage (zuletzt gegen einen Stahlpfosten an einem Bahnsteig) oder mit der Hand gegen den Kopf. Dieses Verhalten kann ich dabei aber kaum noch kontrollieren. Dabei geht es mir, so gesehen, noch besser als manchen anderen Autisten, welche zuweilen mit dem Kopf gegen Wand oder Boden schlagen. Stimming geschieht fast immer automatisch und ist, meiner Erfahrung nach, auch in der Regel, wenn ohne größere Verletzungen ablaufend, ein recht guter Stressregulator, besonders im Bereich niedriger und mäßiger Anspannung. Bei hohem Stress ist es oft eher der verzweifelte Versuch, einen Waldbrand mit einem Gartenschlauch zu bekämpfen.
Aber Stimming kann auch bewusst und aktiv geschehen. Durch das Hören von Musik beispielsweise. Oder durch Zufügen von Schmerzen. Selbstverletzendes Verhalten kommt daher bei Autisten, besonders bei jenen, die nicht um ihren Autismus wissen und daher auch keine Möglichkeiten haben, damit umzugehen, nicht selten vor. Auch ich griff früher zu dieser Methode, um Stressreize kontrolliert zu überdecken und so zu regulieren. Inzwischen jedoch habe ich recht zuverlässig gelernt, Overloads zu erkennen und anders mit ihnen umzugehen – mich den Reizen zu entziehen, Musik zu hören, für Dunkelheit zu sorgen und mich auszuruhen. Mir zu erlauben, nicht wie eine Maschine 24/7 nach allgemeinen Standards zu funktionieren, sondern meinem Hirn, welches ohnehin durch die Filterlosigkeit und geringe komplex-soziale Intuition auf Gefühlsebene wesentlich mehr Rechenleistung zur Alltagsbewältigung zu erbringen hat, Auszeiten und harmonische Reize, eben durch ruhige Musik, Pausen zu gewähren.
Stimming dient jedoch nicht allein der Kontrolle negativen Stresses. Viele Autisten zeigen dieses Verhalten auch bei Freude oder allgemein starken positiven Gefühlsregungen. Beispielsweise durch Flattern mit den Armen (so auch ich, wenn ich es nicht bewusst unterbinde), oder Hüpfen. Das kann dann kindisch oder kindlich und niedlich wirken, für manche aber auch irritierend oder nervig. Daher achte ich im Allgemeinen darauf, in Gesellschaft nur entsprechend unterschwellige Stimmings zuzulassen, wie das Händereiben oder das Spielen mit Stiften (ich habe praktisch immer einen eigenen Kugelschreiber dabei).

Filterlos

An mehreren Stellen habe ich hier bereits erwähnt, dass mir im Kopf die Filter fehlen, die wichtige von unwichtigen Reizen trennen, bin aber bislang selten darauf eingegangen, was das im Alltag genau bedeutet. Lediglich den Nachteil der Overloads und den Vorteil beim Genuss guter Musik habe ich benannt. Der Grund, dass es mir schwer fiel, genaue Aussagen dazu zu machen ist, dass ich noch zu wenig genaue Beobachtungen hatte. Ich kann nicht in die Köpfe anderer, nichtautistischer Menschen hineinschauen, um einen Vergleich zu meiner Wahrnehmung aus erster Hand zu ziehen. Und wenn es um indirekte Vergleiche geht, auf Basis von Beobachtungen und Beschreibungen, dann muss ich erst Erwartungen und Vorstellungen von der tatsächlichen Beobachtung trennen. Gehen wir es also systematisch an.
Beginnen wir mit den Vorstellungen, um diese von der Wirklichkeit differenzieren zu können. Als ich zum ersten Mal den Begriff „Filterlosigkeit“ hörte, hatte ich eine ähnliche Vorstellung im Kopf, wie viele andere, denen ich meine Wahrnehmung zu schildern versuche. Es war die Vorstellung, absolut alle Eindrücke im Bewusstsein abzuspeichern und zu merken. Doch diese Fähigkeit findet man ausschließlich bei so genannten „Savants“, einer unglaublich seltenen Sonderform des Autismus. Wie die überwältigende Mehrheit der Menschen, vergesse auch ich die meisten Eindrücke sehr schnell wieder. Auch nehme ich nicht per se alles um mich herum wahr – Reize, die unter meiner Hörschwelle liegen, Ultraschall, visuelle Eindrücke hinter mir, das alles kann ich logischerweise gar nicht wahrnehmen.
Worin also besteht die Filterlosigkeit? Sie liegt in der „Vorselektion“ der Reize. Diese ist bei mir minimalst, vielleicht gar nicht vorhanden. Merklich wird das, wenn der Reiz zudem irgendwie ungewöhnlich ist. Um das zu verdeutlichen, ein paar Beispiele. Ich habe so genannte „Noise-Cancelling Kopfhörer“, also Kopfhörer mit aktiver Geräuschunterdrückung, die Hintergrundgeräusche, z. B. von Motoren, dämmen. Wenn ich diese Kopfhörer trage, höre Ich Autos nur noch, wenn sie nah und damit laut genug sind (je nach Modell und Musik, die ich höre ab 100 Meter). Der Nebeneffekt: wenn ich gehe, erzeugt das Auftreten natürlicherweise Resonanzen, die normalerweise als Schritte hörbar sind. Dies Schrittgeräusche werden zwar vom Kopfhörer unterdrückt, aber die Resonanzen setzen sich im Körper fort, was ich dann wieder höre. Weiterhin habe ich einen sehr feinen Geruchssinn. Einmal war ich bei meinem Vater zu besuch und reparierte ein Gerät mit WD-40. Wer WD-40 kennt, dürfte den süßlichen Geruch, der Ähnlichkeiten mit Benzin und Vanille hat, gut kennen. Nebenbei: Vielleicht ist das der Grund, warum ich WD-40 mit der Farbe gelb assoziiere. In jedem Fall hantierte ich in einem Raum damit, in dem auch ein Heizofen stand, weshalb das Fenster stets gekippt war. Einige Tage später kam ich zurück und keine zwei Sekunden nach öffnen der Haustüre (nicht der Heizkellertüre), fiel mir genau dieser Geruch auf. Mein Vater bemerkte ihn selbst auf nachfrage nicht und war erst auf eine Beschreibung von mir angewiesen. Zunächst dachte ich, mein Bruder hätte vor kurzem seinen VW Scirocco, ein Oldtimer ohne moderne Abgasfilter, in die angrenzende Garage gefahren, doch es roch nicht so stickig, wie bei Benzinabgasen zu erwarten wäre. Tatsächlich waren es die Rückstände des WD-40, das ich vier Tage zuvor versprüht hatte. Ein drittes Beispiel findet sich im letzten Shutdown, den ich erfahren habe. Ich lag im Bett, bewegungsunfähig, und die Decke und das Kissen im Gesicht stellten derart intensive Reize dar, dass ich in einen Meltdown überging und unkontrolliert um mich schlug, um diese Reize zu entfernen.
Ich merke mir nicht alle Reize. Als ich einmal meine Mutter besuchte, bemerkte sie einmal mit einem merkwürdigen Unterton zu mir, dass ich ja die Klingel nicht gehört hätte, sie schon, und wir waren im selben Raum. Wenn ich mich Konzentriere, dann zieht das Aufmerksamkeit ab. Das müssen noch nicht einmal reale Elemente sein, ich kann so in meinen Gedanken versinken, dass ich meine Umwelt kaum beachte. Auch dies ist ein Zeichen von Autismus (jedoch kein Alleinstellungsmerkmal): Die Fähigkeit zur extremen Fokussierung auf etwas. Die Reize erreichen mein Hirn dennoch. Um das zu erklären, gehe ich es einmal von der nichtautistischen Seite an. Die allermeisten Menschen kennen Konzentration und viele das Phänomen, so versunken zu sein, dass sie ihrer Umwelt nicht bewusst sind. Wenn nebenbei eine Unterhaltung stattfindet, dann blenden sie diese aus, doch wenn ihr Name fällt, horchen sie auf, selbst wenn die Lautstärke gleich blieb. Wenn ich mich stark auf etwas konzentriere, dann reicht schon mal die Erwähnung einer Spezialinteresse. Konzentriere ich mich z. B. gerade auf Daten der Luftfahrt und jemand sagt „Flaps“, dann passt das in meinem Hirn in das System, das gerade aktiv ist, und erreicht mein Hirn. Andere Kommunikationen empfinde ich als störend. Wenn ich in der Bibliothek meines Vertrauens lerne, dann brauche ich Kopfhörer, denn obschon ich mir nicht explizit merke, wenn jemand vorbei geht, irritiert es mich trotz des Teppichbodens und Unabhängig von Schuhen und Gewicht des Passanten jedes Mal. Ganz schlimm sind in dieser Hinsicht wiederkehrende, gleichbleibende Töne. Wenn ich meinen Vater besuche, und mitten im Essen der Trockner sein Programmende erreicht und in regelmäßigen Abständen drei mal leise piepst, stört das fast keinen. Ich reiße mich jedes Mal zusammen, nicht aufzustehen, in die untere Etage zu gehen, dort in den Waschraum und das Piepsen abzustellen.
Weitere Beispiele finden sich in meinen Spezialinteressen. Ich kann bei einem vorbeifliegenden Hubschrauber die Anzahl der Rotorblätter erhören. Ich kann die Marke eines Einsatzhornes am Klang erkennen. In meiner Heimatstadt verwenden mehrere Rettungsorganisationen und die Feuerwehr zwar Martinshörner des selben Fabrikats, doch ich kann erhören, ob ein Rettungswagen oder ein Feuerwehrfahrzeug angefahren kommt. Als ich noch dort gewohnt habe, konnte ich sogar am Klang des Hornes und des Motors die Löschfahrzeuge von den Drehleitern unterscheiden. Zudem konnte ich das Martinshorn des Löschfahrzeuges meiner Abteilung von allen anderen an einer winzigen verlängerten Pause zwischen den Tonfolgen von allen anderen Fahrzeugen, die ich bis dahin von der dortigen Feuerwehr kannte, unterscheiden können. Das zeigt jedoch, dass zu diesen Fähigkeiten mehrere Dinge notwendig sind: eine ausreichende Sinnschärfe als physikalische Grundlage, die Filterlosigkeit, um Reize zu merken, Ein ausreichend weiter Fokus, um sich der Reize bewusst zu werden, und den Entschluss zum Abspeichern der Reize. Oft mangelt es mir am Fokus. Im Extremfall kommt es genau an dieser Stelle zum Reizstau, der zum Overload führt – Mein Fokus ist zu klein, um alle Reize, die ungefiltert auf mich einprasseln, zu verarbeiten. Wenn aber die Filterlosigkeit und Fokus synchron arbeiten, etwa wenn ich mit geschlossenen Augen und den erwähnten Kopfhörern Musik höre, dann ist das unbeschreiblich und allein um dieses Phänomen möchte ich auf den Autismus keinesfalls verzichten.

Sympathie, Empathie und Mitgefühl – Nachtrag

„Did he love you?“
„Data’s capacity for expressing and processing emotion were limited.“
(…)
„He loved you“
Dieser Dialogausschnitt stammt aus „Star Trek: Picard“.
Im Bericht „Sympathie, Empathie und Mitgefühl“ habe ich diese drei Begriffe definiert und dargestellt, dass ich zu Sympathie durchaus in der Lage bin. Also dazu, Gefühle „synchron“ zu anderen zu entwickeln. Meine eigene Version der Gefühle, die andere Menschen haben. Ein gegenseitiges Verständnis der Gefühle selbst ist durch die Differenz schwer möglich, zudem verarbeite ich Gefühle auf eine andere Art, was den verbalen Ausdruck, der ohnehin durch die Andersartigkeit der Natur meiner Gefühle erschwert ist, weiter verkompliziert. Ich muss nicht nur einen Begriff für ein Gefühl finden, der bestmöglichst passt, sondern einen, der auch die Idee des Gefühls bestmöglichst an den Empfänger der Kommunikation überträgt. Es ist wie mit einem Wort in einer Fremdsprache, wie Caesar. Die Caesaren waren die Herrscher, die Imperatoren Roms. Von dem Wort Caesar (lateinisch wahrscheinlich „Kaesar“ ausgesprochen) leitet sich das Wort Kaiser ab. Doch für die Bewohner des alten Roms war der Imperator nicht nur politischer Herrscher, sondern beispielsweise auch oberster Priester. Ihre Idee eines Caesar wich von unserer Vorstellung eines Kaiser ab, bei dem wir vielleicht an einen uniformierten Monarchen mit Krone denken, doch wohl eher selten an einen Kirchenmann. Das deutsche Wort entspricht in seiner Bedeutung nur begrenzt dem lateinischen. Noch größer wird die Differenz, wenn man bedenkt, dass die römischen Herrscher sich selten als „Rex“, als König bezeichneten, sehr oft jedoch als „Imperator“, als Feldherr. Ein Feldherr als oberster Staatsmann im alten Rom, bei uns wäre ein Feldherr eher ein General, ein Militär. Und vor genau diesem Problem der Bedeutungsverschiebung und der anderen Gestaltung stehe ich, wenn es um meine Gefühle geht, zusätzlich zu dem Effekt des anderen Umgangs mit Gefühlen. Das macht ein Einfühlen äußerst kompliziert.
Sympathie, das „synchrone“ nachfühlen von Gefühlen, beherrsche ich. Tatsächlich gewinne ich sehr genaue Bilder vom Innenleben anderer Menschen, wenn ich die Musik höre, die sie hören. Ich kann dann sehr viel besser Vorstellungen davon entwickeln, wie sie sich sehen und wonach sie streben, als wenn sie es mir direkt erzählen. Erst vor kurzem habe ich in einem Gespräch dies erwähnt und nach einer Nachfrage mein Gegenüber anhand zweier Lieder hervorragend beschreiben. Dabei war die größte Schwierigkeit für mich nicht das Fühlen, sondern das finden geeigneter Worte, um die autistischen Gefühle, die ich bei diesen Lieder empfand, in nichtautistischen Begriffen verständlich zu machen.
Zusammenfassend wiederhole ich meine ursprüngliche Aussage: Nach den verwendeten Begriffsdefinitionen fällt mir Sympathie bisweilen leicht, jedoch nicht immer (mittels Musik besser als anders). Empathie beherrsche ich kaum und Mitgefühl wohl ebenso nur in beschränkten Maßen. Doch meine Gefühle, auch meine sympathischen Gefühle, können stark sein. Und sie sind definitiv vorhanden. Nicht immer, während ich beispielsweise diese Zeilen schreibe, empfinde ich praktisch nichts. Doch oft genug empfinde ich starke Gefühle, andere als Nichtautisten, und verarbeite sie auf meine Art, anders als andere, aber wenn man mich lässt, genauso (in)effektiv.

Hochfunktional

Im Zusammenhang mit Autismus hört und liest man oft das Wort „hochfunktional“. Hochfunktionaler Autismus – was bedeutet das? Elementar ausgedrückt besagt dieser Begriff, dass eine Person mit hochfunktionalem Autismus sehr gut funktioniert, und das bedeutet in diesem Zusammenhang, sehr normal, kaum auffällig. Dieser Begriff geht von dem Ursprung des Asperger-Syndroms als „Autistische Psychopathie“, als massive Erkrankung aus.
Autismus ist jedoch nicht eine Geisteskrankheit wie eine Bipolare Störung, die es zu überwinden oder auszuhalten gilt. Zwar ergeben sich aus der Interaktion Autismus-Umwelt Schwierigkeiten, doch da Autismus zunächst einmal schlicht ein anderes „Betriebssystem im Kopf“ darstellt, nach gegenwärtigem Forschungsstand genetisch bzw. neuro-genetisch bedingt, ist der Begriff „Hochfunktional“ irreführend. Manche Autisten möchten den Autismus tatsächlich loswerden. Zumeist sind es Autisten, welche in ihrer Biographie äußere Nachteile erfahren haben, welche mit dem Autismus verbunden wurden, beispielsweise Mobbing. Viele Autisten, darunter ich, sind jedoch durchaus mit sich und ihrem Dasein als Autisten zufrieden – schlägt man ihnen vor,nach Therapien für den Autismus zu suchen oder zu versuchen, sich zu ändern, trifft das auf sie, wie wenn man einem Nichtautisten sagt, er solle Autist werden, denn dies sei normal.
Tatsächlich „funktionieren „die meisten Autisten sehr viel besser, wenn man ihre Eigenheiten akzeptiert. Dann benötigen wir weniger Energie für das, was man als „Masking“ bezeichnet. Darunter versteht man, zumindest in Kreisen von Autisten, das Vorspielen „normaler“, erwünschter Verhaltensweisen zwecks sozialer Integration, die, mal mehr mal weniger, Autisten nicht liegen. Beispiele dafür ist das Halten von Augenkontakt, Händeschütteln, sozial erwünschte Mimik, das Kaschieren von Stressausdrücken, wie beispielsweise „Stimming“, autostimulierendes Verhalten, wie Händereiben, Summen, et cetera. Erlaubt man diese freie Entfaltung, fällt es sehr viel leichter, das eigene Hirn zu verwenden und die eigenen Stärken zum Tragen zu bringen.
In der modernen Psychiatrie (deren Monopol auf die Autismusforschung ich persönlich kritisch sehe) und Psychologie ist m. E. n. noch nicht erkannt, dass Autismus mehr ist als eine Entwicklungsstörung. Aber es ist erkannt worden, dass es keine Psychopathie ist. Inzwischen dringt auch mehr und mehr durch, dass Autismus kein lineares Kontinuum zwischen hochfunktionalem Autismus (alias Asperger-Syndrom) und niedrigfunktionalem Autismus, wie dem frühkindlichen Autismus. Die Autismusspektrumstörung, wie die moderne Diagnose lautet, also das, was ich als Autismus erlebe, bemisst sich in sehr vielen unterschiedlichen Variablen, und jeder Autist hat unterschiedliche Ausprägungen dieser Variablen. Andere Autisten können anderen Menschen überhaupt nicht in die Augen schauen, ich kann es für ein paar Sekunden. Manche Autisten sind enorm empathisch und registrieren kleinste Abweichungen in der Stimmung ihres Gegenübers – ich kann das nur bei sehr vertrauten Menschen. So ist jeder Autist individuell, mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Schwächen und Stärken. Letzteres ist natürlich hauptsächlich Situationsabhängig. Allen gemeinsam ist die Andersartigkeit, die ich in den übrigen Berichten und auf den Menu-Seiten anhand meines Falles zu beschreiben versuche.

Superpower

Ich habe lange gezögert, dieses Thema anzusprechen, da ich nicht wusste, wie ich es gut vermitteln kann. Nach ein paar inspirativen Äußerungen anderer denke ich, dass ich es wagen möchte.
„Autism is my superpower“, äußerte sich einmal Greta Thunberg gegenüber einer Fernsehreporterin (Indirekt: https://www.youtube.com/watch?v=BQ4rBLCpEeM). Und wenn man sich Darstellungen von Autisten wie in „Rain Man“ anschaut, in denen Ray als „genialer Idiot“ herüber kommt, dann kann man schnell die Idee entwickeln, Autisten wären oder hielten sich für eine Art Superhelden. Tatsächlich wissen wir alle, dass kein Autist Spinnenfäden aus den Handgelenken verschießt, sich unsichtbar machen oder fliegen kann, oder derartiges, was wir mit Superhelden assoziieren. Und Rain man stellt einen Savant dar, keinen „normalen“ Autisten. Letztendlich verbinden wir mit Superhelden auch eine moralische Überlegenheit, doch Autisten vertreten in generale keine höheren moralischen Werte, als jeder Mensch sonst. Wir sind Menschen. Alle.
Superpower bedeutet hier etwas anderes. Thunberg erklärt es in dem verlinkten Youtube-Video: Die Fähigkeit, grundlegend quer zu denken. In meinem vorangegangenen Bericht habe ich beschrieben, oder zumindest zu beschreiben versucht, dass ich manchmal für Außenstehende atypisch reagiere. Auch oft ungewöhnlich denke. Auf der einen Seite hielten mich darum andere Menschen schon gelegentlich für dumm, da ich manche sozalen „Codes“ nicht verarbeiten kann. Andererseits habe ich in jenem vorangegangenen Bericht auch zwei große Stärken dieser atypischen Denkweise beschrieben: Ein großes Durchhaltevermögen, oder besser Durchsetzungsvermögen, und die Möglichkeit, quer zu denken, neue Lösungen oder Lösungswege zu finden. Ob diese andere Denkweise ein Vor- oder Nachteil ist, hängt wesentlich von der Situation ab.
Autismus als „Superpower“ zu bezeichnen ist ein Narrativ, was vor allem autistischen Kindern beigebracht wird. Für einen Autisten ist die eigene Wahrnehmung ja normal und da zumindest all jene Autisten, welchen ich bislang zugehört habe, auch keinen generellen Leidensdruck außerhalb der umweltbedingten Overloads erfahren, ist es schwierig, Autismus als Krankheit anzusehen. Gerade ein Kind mit Autismus (Zumindest der autistischen Form des Asperger-Syndroms) wird es wohl schwerlich verstehen, wenn man ihm erzählt, es sei behindert oder krank. Dennoch kann es wahrnehmen, dass es anders „tickt“ und fragen, warum dem so ist. Die Fähigkeit zum Querdenken, die Durchsetzungskraft und das Durchhaltevermögen, die oft mit Autismus einher geht (als Folge, da es vermehrt Energie braucht, die eigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen in einer weitestgehend nichtautistischen Welt durchzusetzen), die große Faszination, Fokussierungsfähigkeit und Speicherkapazität für Spezialinteressen und nicht zuletzt die hoch sensible, filterlose Wahrnehmung als Superkraft zu bezeichnen, schafft Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein.
Ich selbst, diagnostiziert mit 21 Jahren, habe dieses Narrativ so nicht beigebracht bekommen. Tatsächlich habe ich bis ich 18 war null Berührungspunkte mit dem Autismus gehabt, wenn man davon absieht, dass ich selbst Autist gewesen bin. Ich habe sogar einige der Vorurteile und falschen Vorstellungen über Autisten selbst im Kopf gehabt. Das mag auch dazu beigetragen haben, dass es erst die Intervention der Timekeeperin brauchte, um mir die Augen zu öffnen. Ich denke, die Gemeinsamkeit zwischen Superhelden und Autisten reduziert sich auf eine stark ausgeprägte Andersartigkeit (viele Superhelden haben auch Achillesfersen). Im Wesentlichen jedoch sind Autisten Menschen, sie gehören zur menschlichen Spezies, sie sind Teil der menschlichen Gesellschaft. Sie sind einfach anders. Wir sind anders.

Orientierung

Von A nach B zu kommen, ist im alltäglichen Maßstab keine große Sache. Doch seit meinem Umzug liegt mein Wohnort fast 400 Kilometer von meiner Heimat entfernt und gelegentlich ergibt es sich, dass ich dort vorbei schauen möchte. Da ich selbst kein Auto besitze, bietet sich für mich die Bahn als Verkehrsmittel an. Reisebusse vibrieren mir zu sehr und fahren zu unruhig. Dabei kann es durchaus zu Komplikationen kommen. Zwar plane ich solche Fahrten in der Regel akribisch, doch ich denke, wir kennen die DB gut genug. Bei der letzten Fahrt jedoch war die DB tatsächlich unschuldig an einem kleineren Dilemma: Ich plante einen Zwischenstopp in Hessen, um dort jemanden zu treffen. Unglückliche Umstände jedoch verzögerten das Treffen, was meine Planung durcheinander warf. Diese Unordnung im Kopf neu zu sortieren ist herausfordernd, Prioritäten sortieren sich neu, mein Fokus weicht ab von den objektiv wichtigen Dingen zu jenen Dingen, die in meinem Hirn von größerem Interesse sind. Als ich jene Person traf, viel es mir beispielsweise sehr schwer, mich auf sie zu konzentrieren, da der Ort im Endanflug des Frankfurter Flughafens befand und die Flugzeuge für mich faszinierend waren. Mein Hirn ordnete die Planung neu und in diesem Moment, unter Stress stehend, gemäß seinen „natürlichen“ Prioritäten und Interessen.
Dieses Phänomen beobachte ich oft. Wenn ich unter Stress stehe, besonders, weil meine Umgebung und ich nicht aufeinander abgestimmt sind, dann fokussiert sich mein Hirn verstärkt auf jene Denkmuster, welche Sicherheit und Halt gewähren. Im Sanitätsdienst ist dies oft sehr positiv, denn im Einsatz hat man sich an einem ganz bestimmten, zentralen Schema zu orientieren. Für das Leben jedoch gibt es kein Schema. Nachdem der Zwischenstopp beendet war und ich weiter fuhr, stand ich derart unter Stress, dass ich nicht, wie eigentlich vorgesehen, mein Ziel in Baden anfuhr, sondern mein Ausweichziel im Schwarzwald, da ich wusste, dass ich nur dort eine Umgebung vorfinde, die mir eine weitestgehend stressfreie Umgebung liefern kann. Wenn ich von meiner Planung selbstständig abweiche, dann braucht es für mich einen sehr guten Grund, diese „vorprogrammierte Sicherheit“ zu verlassen. Aber auch das ist eine Verhaltensweise, die ich oft anwende: Die Rückkehr an einen Ort, an dem ich erfahrungsgemäß herunter fahren kann. Ein weiteres Beispiel dafür liefert eine Prüfung, welche ich im Februar geschrieben hatte. Ich hätte danach theoretisch einen weiteren Universitätstermin, doch die Prüfung hat mich derart Energie gekostet, dass ich für den Termin nicht mehr genügend übrig hatte und stattdessen zurück fuhr, um den Nachmittag über zu schlafen. Unter normalen Umständen schaffe ich es nie, tagsüber zu schlafen, doch Klausuren, Treffen mit mehreren Menschen und andere Dinge, welche mich Energie kosten, bringen mich oft dazu. Ohne genügend Energie beginnen mir die Dinge schwer zu fallen und ich ziehe die verbleibende Energie automatisch aus allem ab, was ich nicht notwendigerweise brauche. Aber auch nach dem Schlafen muss ich mich erst „hochfahren“. In meinem Hirn ist die Routine eingeprägt, was ich in den Minuten nach dem Aufstehen in welcher Reihenfolge mache und wo genau die Dinge stehen, die ich dazu benötige. Funktioniert dies nicht, dann warte ich entweder so lange, bis die Blockade gelöst ist (auch wenn das eine halbe Stunde dauert), oder ich reagiere sofort mit Stress, oder ich schalte in den „Alarmmodus“, bei dem ich mich so zügig wie möglich anziehe alles einpacke, um das Haus zu verlassen, und auf alles andere verzichte. Diese Routine jedoch habe ich eher für Notfälle entwickelt, sie ist anstrengend und die verbleibenden Ressourcen, auch zum Ausgleich dieser Abweichung vom Standardfall, reichen in der Regel nicht aus, um einen langen Arbeitstag ausgeglichen zu überstehen, sondern ohne entsprechenden Ausgleich nur für einige Stunden hoher Konzentration und körperlicher Belastung. Ähnlich einem Motor, den man vom kalten Zustand auf Höchstleistung schaltet. Wird jedoch eine normale Routine von mir unterbrochen, oder es kommt zu Abweichungen von meinen Plänen in großem Umfang, dann habe ich oft keine freien Ressourcen in Entspannung und Energie zur Verfügung, um mich daran anzupassen und ich verliere zuweilen die Orientierung und den Überblick. Insbesondere bei Routinen, welche fixe Strukturen darstellen, die ich einfach brauche, um mein Hirn zu entlasten.
Der Vorteil dieses „Betriebssystems Autismus“ ist die Konsequenz, mit der an Plänen festgehalten und diese durchgesetzt werden können, wenn nötig mit großer Anstrengung. Bei einer Gruppenarbeit für vier Personen von Oktober bis Januar stand ich eine Woche vor Abgabe vor der Situation, dass sich die Gruppe zerlegt hatte und ich nur meine eigenen Ausarbeitungen hatte. Also ein gutes Viertel der Arbeit, die in drei Monaten erledigt wurde. Ich hatte eine Woche, um den Rest zu ergänzen, oder einen Tag, um mich von der Abgabe abzumelden. Dem Plan zu folgen und lediglich den Arbeitsaufwand anzugleichen war für mich einfacher und angenehmer, als den kompletten Plan über bord zu werfen. Daher entschied ich mich, die Arbeit alleine in, ich darf es so nennen, Rekordzeit zu beenden. Der Erfolg gab mir recht. Hier reichte meine freie Kapazität und meine Energie aus, um die neue Lage schnell genug zu verarbeiten, die Flexibilität aufzubringen um den Plan anzugleichen und zu Ende zu verfolgen.

Sympathie, Empathie und Mitgefühl

Oft lese ich von der Einstellung, Autisten hätten kein Mitgefühl. Und im ersten Moment stimmt dies zumindest mit mir überein: Ich habe einen sehr geringen Empathiewert gemäß psychiatrischen Tests. Doch ich bin zur Sympathie fähig. Geht es meinen Freunden schlecht, hat dies Auswirkungen auf mich, geht es ihnen gut, bin ich zufrieden. Nun habe ich einen kleinen Vergleich gelesen, bei dem ein Autist die drei Begriffe des Titels dieses Berichts definiert hat und damit lässt sich dieser vermeintliche Gegensatz aufklären.
Sympathie ist die Fähigkeit, Gefühle eines anderen Menschen zu erkennen. Diese Erkenntnis korreliert mit den eigenen Gefühlen. Dazu bin ich teilweise sehr gut in der Lage: Ich kann anhand von Erfahrung mit einem Menschen, Situation und Erlerntem erkennen, wie er sich ungefähr fühlt. Ich kann dementsprechend oft differenzieren, ob er oder sie sich gut/schlecht, angespannt/beruhigt fühlt und je nahestehender mir persönlich ein Mensch ist, also je wichtiger sein Wohlergehen mir persönlich ist, desto eher entwickle ich paralell zu seinen Gefühlen, eigene Gefühle.
Empathie bedeutet, sich in einen anderen Menschen derart hineinversetzen zu können, dass man die Gefühle des anderen eins zu eins nachempfindet. Das ist mir nahezu nicht möglich, außer bei Gefühlen anderer Autisten, die meinen ja sehr viel ähnlicher sind, als jene von Nichtautisten.
Mitgefühl ist eine derart starke Empathie, dass eine Trennung der Gefühle beider Individuen so sehr verschwimmt, dass der Reagierende Impulse aus diesem Mitgefühl entwickelt. Ist mein Gegenüber traurig, will ich ihn trösten. Das erlebe ich meist nur bei sehr nahe stehenden und/oder sehr vertrauten Menschen, die ich wirklich gut kenne und sie in Situationen stecken, die für mich bekannt (also nachvollziehbar oder schon einmal erlebt worden) sind. Soweit ich mich erinnere habe ich Mitgefühl nach diesem definitorischen Ideal bislang nur für eine Handvoll Menschen empfunden.
Tatsächlich stelle ich fest, wie das Erkennen dieser Nuancen, welche für andere Menschen vielleicht Kleinigkeiten darstellen würden, für mich und meine Selbsterkenntnis sehr wertvoll ist. Mit dem Autismus habe ich Beschreibungen, was ich bin, was wiederum erklärt, wie ich bin. Dies und die Recherchen an anderen Autisten, Nichtautisten und das lesen und hören ihrer Äußerungen, sowie der Vergleich mit mir, liefert mir Worte, die ich nutzen kann, um zu beschreiben wie ich im Speziellen und wie Autismus im Allgemeinen funktionieren.

Verständnis

Sprache, Gefühlsfrage

Die Verständigung zwischen Autisten und Nichtautisten ist ein Kapitel für sich. Beginnen wir von innen und arbeiten uns nach außen vor. Zuerst möchte ich die Gefühle näher betrachten. In den letzten Tagen und Wochen habe ich viel Input erhalten, der nahe legt, dass meine Gefühle insbesondere anders sind. Damit möchte ich ausdrücken, dass sie nicht „weniger“ sind, als die Gefühle von Nichtautisten. Den entsprechenden Menüpunkt werde ich dazu auch überarbeiten. Ja, sie sind unterentwickelt. Meine Art, mit ihnen umzugehen, deutet, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, daraufhin, dass sie die Qualität eines Kindes aufweisen. Doch ich bin kein Kind mehr. Mein Autismus wird niemals verschwinden, denn Autismus ist nicht änderbar. Doch wie sich Menschen innerhalb bestimmert Parameter entwickeln können, entwickle zu meiner Zufriedenheit auch ich mich und auch meine Gefühle. Für einen wissenschaftlichen Vergleich benötigt es stets Gemeinsamkeiten und Unterschiede und auch in meinen Gefühlen gibt es Unterschiede zu jenen von Kindern. Der Indikator dafür ist die Tatsache, dass viele Menschen, selbst mein Vater, meine Gefühle nicht immer nachvollziehen können – obgleich jeder einmal Kind war und mein Vater ein außerordentliches Langzeitgedächtnis aufweist. Logischerweise verhält es sich umgekehrt genauso: Viele Emotionen von Nichtautisten sind mir unbekannt. In den Punkten der Übereinstimmung kann ich sehr feinfühlig sein, etwa bei der Wahrnehmung von Stress. Aber schon die Äußerung und Reaktion darauf unterscheidet sich. Ich äußere meine Gefühle anders andere Menschen. Beispielsweise lächle ich kaum. Und wenn andere Menschen gestresst sind, gehe ich ihnen aus eigenem Instinkt aus dem Weg, da ich es von mir kenne, dass jede Interferenz von außen den Stress steigert. Das führte früher bei meinen Eltern gelegentlich zu Irritationen, wenn der Stress aus zu vielen Haushaltsaufgaben herrührte und genau dann ich mich aus der Erledigung der Aufgaben herausnahm, anstelle Eigeninitiative zu ergreifen, wie sie es erwarteten. Inzwischen haben wir das soweit gelöst, dass ich, wenn ich zu besuch bin und eine Aufgabe ansteht, sie sie mir entweder direkt übertragen oder ich die Übernahme klar ansage und sie sich dann auch völlig aus dem Erledigen heraus halten, damit ich sie auf meine Weise und ungestört abarbeiten kann.
Starke Gefühle haben auch den Effekt, mich zu stressen. Negative Gefühle besonders, aber auch positive Gefühle können mich anstrengen. Mein Hirn braucht Energie, um sie zu verarbeiten und diese fehlt dann oft an anderen Stellen, was Overloads begünstigt.
Auch meine Gedankengänge unterscheiden sich oft von jenen anderer Menschen. Sehr deutlich wurde dies bei der Frage, warum ich so lange eine klare, präzise und fachlich korrekte Diagnostik angestrebt habe. Während viele Nichtautisten, auch Fachleute, mir nahe legten, die Diagnostik sein zu lassen und mich lieber darauf zu konzentrieren, dass ich mich als Individuum gut zurecht finde, war es für mich entscheidend, zu wissen, was ich bin, denn erst daraus lässt sich für mich schließen, wer ich bin. Und als Mensch, der sich entwickeln möchte, muss ich wissen, welchen Linien entlang ich funktioniere, um nicht Ewigkeiten gegen Windmühlen anzukämpfen. Beispielsweise wurde mir u. a. von Fachleuten empfohlen, Emotionen per Achtsamkeitsübungen aufzuspüren – was sinnlos ist, wenn ich in der entsprechenden Situation keine spezifischen Gefühle habe.
Zur Verständigung gehört die Sprache. Wie bei vielen Autisten ist auch meine Sprache oft von Präzision geprägt. Diese Präzision ist sehr nützlich, um Missverständnisse zu vermeiden. Doch mit Nichtautisten zu sprechen ist oftmals, wie wenn man fließend die chinesischen Worte und die Gramattik kennt, also fließend chinesisch redet, doch noch nie mit einem Chinesen in China: Bestimmte Bedeutungen des Gesagten gehen verloren, oder werden unbeabsichtigt getriggert. So kommt es mir manchmal vor, als würden andere Leute mir Dinge in den Mund legen, die ich nie gesagt habe, weil das, was ich gesagt habe, bei Nichtautisten die entsprechende Bedeutung enthält. Oder ich möchte etwas vermitteln und schaffe es einfach nicht. Umgekehrt kann dies auch geschehen. Besonders in der Kommunikation von autistischen und nichtautistischen Besonderheiten wird es schwierig, da hier Dinge vermittelt werden, für die das Gegenüber keine Bilder hat, sozusagen formlose Begriffe. Vergleiche und Metapher, etwa wie oben mit der chinesischen Sprache, können dabei oftmals hilfreich sein, wenn sie zur Hand sind. Erklärungen, wie auch diese Berichte und die Memes, welche ich erstelle, helfen, doch ein gewisses Maß an Unverständnis bleibt auf beiden Seiten immer. Solange man sich dennoch gegenseitig respektiert, sehe ich darin jedoch überhaupt kein Problem.

Maschinen

Ich habe an mir und an anderen Autisten schon öfters ein bestimmtes Phänomen beobachtet. Nach dem Auflösen einer Krisenlage gehen wir scheinbar direkt in den „Alltagsmodus“ zurück. Andere Leute feiern, verbringen die Zeit damit, sich zu freuen, wir scheinen einfach nur einen Haken daran zu setzen. Dabei möchte ich keinesfalls verallgemeinern, alleine schon, weil mir dieses Phänomen nur ab und an aufgefallen ist. Woher könnte diese Beobachtung stammen und welche Funktionen liegen ihr zugrunde?
Beginnen wir bei Filmen. Filme sind aus meiner Sicht hervorragende Modelle von Realitäten. Selbst Science-Fiction oder Fantasy beinhaltet mit der realen Welt übereinstimmende Züge, die meist sogar im Zentrum des Geschehens stehen. Und in Filmen fällt auf, dass das Ende einer Krise meist das Happy-End ist. Es wird in irgendeiner Form hervor gehoben und danach klingt der Film aus. In seltenen Fällen findet sich noch ein Epilog. Warnung: Spoiler. Beispielsweise ist dies bei den Filmen um Harry Potter der Fall, in dem der Sieg über den „Dunklen Lord“ tatsächlich nicht gefeiert wird, sondern sich die Charaktere erst von der Schlacht um Hogwarts erholen. Im Epilog wird die wieder eingekehrte, glückliche Realität Jahre später dargestellt. Hält man dem nun einen ganz anderen Film, etwa die Komödie „Bruce Allmächtig“ entgegen, so findet man hier die klassische Happy-End-Schlussszene, in der der Hauptcharakter seine Fehler eingesehen hat und seine verloren geglaubte Verlobte wieder an seiner Seite hat. Ein dritter Film zum Vergleich wäre „Das Boot“, der sein eigenes Happy End zerstört, da die schon sicher zurückgeglaubte Besatzung des „U96“ nach der Feindfahrt im Hafen von La Rochelle bei einem Luftangriff beinahe vollständig umkommt. Aus diesem Grund zählt „Das Boot“ zu meinen Lieblingsfilmen: Er zeigt die brutale Realität des Krieges, der sich nicht um erzählerische Logiken kümmert.
Und doch sind Happy Ends die klassischen und erhofften Ausgänge der Geschichten. Märchen, Disney-Filme, Kindergeschichten, ja sogar klassische Dramen schließen mit Happy Ends, in letzterem Falle zwar vielleicht mit dem Tod der Hauptcharaktere (etwa Fausts Gretchen, Senta bei Wagners fliegendem Holländer, oder Romeo und Julia), doch genau damit mit einem ewigen Sieg der Liebe und Romantik. Diese Vorstellungen sind Zeugen unseres Denkens: Das Gute siegt in der Regel und das Gute sind wir. Und wenn wir gesiegt haben, ist die Geschichte vorbei, ihr Höhepunkt überwunden und ihr Ausklingen ist zu genießen. Wir verlassen das Kino oder das Theater im besten Falle mit einem nachhaltigen Eindruck des Ausgangs der Geschichte. Wenn wir selbst etwas geschafft haben, dann feiern wir es. Eine bestandene Prüfung, ein abgeschlossenes Arbeitsprojekt, ja sogar ein harter Arbeitstag wird oft mit einem „Feierabendbier“ ausgeläutet. Wenige sind es, die sich nach einem abgeschlossenem Projekt direkt in den Alltag stürzen, zurückkehren in die immerwährend gleiche Umgebung, ohne zumindest kurz in diesem Zustand des Endes zu verweilen. Und wenn wir doch einem solchen begegnen, dann sehen wir ihn an als „Spießer“, „Workaholic“ oder – als „Maschine“.
Ich habe vor kurzem den Hauptakt (die Intervention in ein strategisches Geschehen) eines Projektes erfolgreich beendet. Das Projekt selbst ist zwar noch nicht ganz abgeschlossen (die Stabilisierungsphase währt noch an), doch ich rechne mittlerweile zuversichtlich mit einem zufriedenstellendem Ergebnis. Viele andere hätten wohl zu diesem Zeitpunkt den Erfolg gefeiert, auf die ein- oder andere Art. Ich habe zunächst einfach nur etwas gegessen, da ich die Tage zuvor kaum dazu gekommen war. Danach habe ich direkt mit der Planung der restlichen Woche weiter gemacht. Zwar war und bin ich über das bisher bestätigte Outcome der Intervention sehr erleichtert und zufrieden, doch „Life goes on“, und das bedeutet für mich, dass neue Lagebilder zu erstellen sind, neue Pläne, bestehende Pläne zu aktivieren und Routinen, welche in der Interventionsphase auf der Strecke blieben, aufgenommen werden. Und genau das ist es, was ich schon öfters beobachtet hatte: Die Rückkehr zu gewohnten Verhaltensmustern.
Dazu habe ich eine Hypothese: Nichtautisten können die Ausläufer der Ausnahmesituation einer Krise, das Happy End spontan genießen. Ich als Autist sehe mit Ende der Krise (aus dem Griechischen „krisis“, „Entscheidung“) auch das Ende der Ausnahmesituation und die Gelegenheit, die gewohnten Strukturen wieder zu aktivieren, die mir de natura entsprechen. Im Gegensatz zu anderen „plane“ ich auch das Happy End: beispielsweise in Form einer längerfristigen Anpassung an die postkrisischen Umstände und dem Nutzen der freiwerdenden Energien für angenehmere Dinge. Das kann bisweilen auch meine Arbeit sein. Und hier haben wir den „maschinellen Punkt“ erreicht. Während nun andere feiern würden, sitze ich an Alltagsgeschäften und von aussen wirkt es vielleicht so, als hätte mich das Geschehene nicht nachhaltig berührt, oder ich wäre eine eiskalte Maschine. Dem ist jedoch nicht so. Es ist ein anderer Umgang, begründet in einer anderen Denkweise, welche die gewohnten, konsolidierten Strukturen stets im Fokus hat. Tatsächlich kann ich mich trotz diesen Umganges sehr über ein Happy End freuen, ohne dass man es direkt merken würde. Es zeigt sich dann meist mit der Zeit, da ich ein verändertes Bewusstsein zu dem entsprechend beendeten Thema und Elementen, die davon berührt wurden, entwickle. So beispielsweise nach der Feststellung meines Autismus. Nach Monaten Klarheit zu haben, ist eine sehr erleichternde Sache. Ich sah jedoch keinen Grund zum feiern. Doch mein Bewusstsein für mich und für Autismus hat sich verändert und ich kann mit beidem als Einheit besser umgehen, als je zuvor, was mir mein Leben erleichtert und mir Freude daran bereitet.

Monster

„Ich komme mir vor wie ein Monster“. Dieser Satz stammt im Original nicht von mir. Doch er passt sehr gut für eine bestimmte Situation, nämlich dem Zustand nach einem Meltdown.
Meltdowns entstehen als Folge von Overloads (siehe entsprechenden Menüpunkt „Overloads, Meltdowns und Shutdowns“). Es ist der Zustand, in dem man zu vielen Reizen ausgesetzt ist, um sie alle verarbeiten zu können und einem sozusagen „das Hirn schmilzt“. Vorangehender Stress kann dabei diese Schwelle stark senken. Mir ist dies neulich geschehen: Stress senkte meine Schwelle so weit ab, dass das Summen des PCs und ein unkoordiniert flackerndes Lämpchen den Overload eskalieren ließ. Im Meltdown ist man dem Overload ausgeliefert und versucht verzweifelt, die überwältigenden Reize abzuwehren und den Stress loszuwerden. Nicht selten nehmen Meltdowns daher den Ausdruck von Panik oder Wutanfällen an. Kommt es dabei zur Interaktion mit anderen Menschen, so stellt diese einen Reiz von außen dar, der entsprechend zur Überforderung beiträgt und gegebenenfalls abgewehrt wird. Mit einem überladenen Hirn ist es dabei aber kaum möglich, diese Abwehr zu kontrollieren oder die Stressentladung ordentlich zu kanalisieren. Tatsächlich habe ich auf diese Weise während des bewussten Meltdowns eine sehr gute Freundschaft zerstört. Das ist leider nicht allzu ungewöhnlich. Mir liegen Berichte von Autisten vor, deren Beziehungen an einzelnen Meltdowns zerbrachen. Ich möchte nicht so vermessen sein, die Verantwortung zur Gänze zu übernehmen, tat ich doch im Nachhinein nach bestem Wissen was ich konnte, um den Konflikt zu deeskalieren. Ich erklärte mein Verhalten und dass das Outcome nicht meinen Absichten entsprach und bat um Entschuldigung. Zudem versuchte ich, „bottom-up“ die friedliche Kommunikation wieder herzustellen – doch diese Deeskalationsversuche scheiterten.
Es ist ein sehr schlechtes Gefühl, unbeabsichtigt eine Freundschaft zerstört zu haben. Sich bewusst zu werden, dass das eigene Hirn so geschmolzen war, dass man sich auf eine Art und Weise verhalten hat, die man im ausgeglichenen Zustand verabscheut. Man kommt sich vor, wie ein Monster. Ich identifiziere mich mit meinem Autismus. Also identifiziere ich mich auch mit dem, der diese Freundschaft zerstörte. Das war ich, das tat ich und ich trage die Verantwortung dafür. Doch ich tat dies ohne Absicht, ohne mir der Konsequenzen meiner Äußerungen bewusst zu sein. Ich zielte darauf, Reize abzuwehren, nicht darauf, was ich objektiv auch tat: einen Menschen zu verletzen.
Nach dieser Erkenntnis habe ich versucht, es einzuordnen. Heißt das vielleicht doch, ich sei „gestört“? Antwort: Nein. Mir liegen nämlich auch Berichte vor von Nichtaustisten, welche bisweilen ausrasten. Aus anderen Gründen und mit anderen Intentionen, doch mit dem selben Ergebnis, dem Verletzen nahestehender Menschen. Mein Hirn funktioniert im Meltdown durch den Overload nicht mehr. Vom daraus entstehenden Output Rückschlüsse auf die Person zu ziehen ist aus meiner Sicht ungefähr so, als ob man den Charakter des Roger Thornhill (Cary Grant) vorwirft, dass er andere Verkehrsteilnehmer gefährdet, als er volltrunken im Auto vor den Leuten flieht, die ihn umbringen wollen und zuvor den Alkohol ohne seine Zustimmung eingeflößt hatten (Der unsichtbare Dritte). In beiden Fällen reagierte die fragliche Person auf einen unerwünschten Zustand mit einer logischen (jedoch bounded rational) Reaktion zum Leidwesen Dritter.
Heißt die Verantwortungsübernahme hier, dass ich vielleicht doch ein autistisches Problem mit mir habe? Ich tue subjektiv schlechtes in Zuständen, in denen mein Hirn aufgrund des Autismus nicht mehr funktioniert, aber ich übernehme doch die Verantwortung dafür und ich identifiziere mich mit dem Autismus. Identifiziere ich mich hierbei mit einem Problem? Indirekt schon. Direkt jedoch mit der Filterlosigkeit, welche in der Interaktion mit der Umwelt zur Schwäche werden kann, Overloads und Meltdowns passiv (!) ermöglicht und diese lösen das Problemverhalten aus. Andererseits ermöglicht mir die Filterlosigkeit auch den Genuss beispielsweise von Musik auf äußerst intensive Art. Sie ist nicht per se Stärke oder Schwäche – die Problematik entsteht erst in der spezifischen Interaktion mit der aktiven Umwelt. Somit ist der Autismus per se nicht gut oder schlecht. Er kann sich sehr positiv äußern (z. B. im Querdenken), oder sehr negativ, wie hier. Ich lerne immer mehr über mich und ich hoffe, irgendwann genug Erfahrungen zu haben, als Autist mich geschickter in meiner Umgebung und in den Beziehungen zu anderen Menschen zu bewegen. Und auch wenn ich definitiv nicht mag, was ich unbeabsichtigt tat, so bin ich dankbar, dass ich daraus lernen konnte.